Briefe aus Ghana Teil 5

Catharina-E. Comberg // August 2023

Herausforderungen des Alltags

Waisenschule (© Foto: Catharina-E. Comberg)

Catharina-E. Comberg nimmt uns mit nach Afrika und berichtet ein Jahr lang von ihrem Freiwilligendienst in Ghana. Was bisher geschah können Sie in Teil 1, in Teil 2, in Teil 3 und in Teil 4 der Seume JOURNAL Miniserie lesen.

Ein halbes Jahr ist vergangen, viele Tafeln gewischt, Rücken massiert und Leder vernäht seit ich das letzte Mal im Brief aus Ghana Teil 2 von meiner Arbeit berichtet habe. Welche Idee hinter meinem Jahr in Ghana steckt, wisst ihr bereits. Mit der Kultur meines Gastlandes seid ihr vertraut. Aber welche Realität verbirgt sich inzwischen tatsächlich hinter meiner Arbeit als Freiwillige? Was treibe ich hier eigentlich konkret? Es ist Zeit für ein Update. Nachdem ich im Juli letzten Jahres mit dem Abitur von der Marienschule Saarbrücken verabschiedet wurde, war ich trotz einer großartigen Schulzeit eigentlich nicht besonders scharf darauf, in der nächsten Zeit nochmal eine Schule von innen zu sehen. Entgegen meiner Erwartungen haben mich zwei Monate in der Waisenschule in Duakwa eines Besseren belehrt. Voreingenommenheit ist eben selten ein guter Ratgeber. Die Lehrer Jakob (aus dem Foto im Rollstuhl) und Ebow haben mich mit ihrer zwölfköpfigen Rasselbande sofort integriert. Alle Schüler:innen sind im weitesten Sinne Waisen. Die meisten elternlosen Kinder wurden von der Straße aufgelesen, wo sie sich mit Betteln und Verkaufen von Kleinigkeiten durchschlugen. Andere Schützlinge kommen aus Familien, die sich um ihren hilfsbedürftigen Nachwuchs nicht kümmern können oder wollen.

In Ghana besteht neun Jahre Schulpflicht. Staatliche Schulen sind bis zur 12. Klasse „kostenlos“. Warum gehen diese Sprösslinge also nicht auf eine reguläre Schule? Nun ja. Zwar müssen Eltern kein Schulgeld mehr zahlen. Schuluniform, Lernmaterial und Transport sind trotzdem nicht umsonst. In Familien, die seit Generationen keinen Zugang zu Bildung haben und sowieso von Hand zu Mund leben, hat Bildung keine hohe Priorität. Deshalb helfen die Kinder mit Feldarbeit und Straßenverkauf dabei,das Abendbrot zu verdienen.

Diese Praxis versucht die Heilsarmee mit ihrer Waisenschule zu brechen. Nicht zuletzt Dank des leidenschaftlichen Engagements einer Mitfreiwilligen kann die Klasse komplett unentgeltlich mit Lehrbüchern, Stiften, Uniformen und sogar einem warmen Mittagessen versorgt werden. Letzteres ist für einige nicht selten die einzige Mahlzeit des Tages. Die Kinder können so trotz ihrer Mittellosigkeit in das Schulsystem eingeführt werden. Sobald sie Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben, Rechnen und der englischen Sprache beherrschen, werden sie in die zweite oder dritte Klasse einer Regelschule eingegliedert. Damit ist der entscheidende Anfang für die Kleinen gemacht und der ist bekanntlich die Hälfte vom Ganzen.

Die Kinder kommen unheimlich gerne in das stillgelegte Elektrizitätswerk, in dem gelernt, gespielt, und gesungen wird. Ich erlebte die Kleinen als enorm wissbegierig. Zwar war es für mich eine große Herausforderung, Mathe, Religion, Schreiben und erste englische Wörter vor einer Klasse zu erklären, die so gut wie kein Wort Englisch versteht. Die cleveren Köpfchen verstanden die wild gestikulierende Hellhäutige und ihre mal mehr, mal weniger gelungenen Skizzen an der Tafel trotzdem, was ich einigermaßen verblüffend finde. Man wächst eben an seinen Herausforderungen.

Die Waisenschule im stillgelegten Elektrizitätswerk (© Foto: Catharina-E. Comberg)
Die Waisenschule im stillgelegte Elektrizitätswerk

Davon gab es viele. Gleich am ersten Tag musste ich mich sehr zusammenreißen, als ich beobachtete, wie Schülerin Hannah mit Stockhieben für das Vergessen ihrer Hausaufgaben bestraft wurde. Der Rohrstock ist in Ghanas Schulen das beliebteste Mittel zur Disziplinierung, obwohl er seit wenigen Monaten gesetzlich verboten ist. Mich hat es schockiert, wie angespannt und schreckhaft die Kinder wurden, sobald ein Lehrer den Schlagstock auch nur in der Hand hielt. An den Anblick solcher Züchtigungen habe ich mich gezwungenermaßen gewöhnt, was mich zuerst noch mehr erschrocken hat. Aber schließlich ist es Teil der Realität. Da ich es nicht verhindern kann, muss ich wenigstens einen Weg finden, damit umzugehen. Meine Eltern haben mir aus ihrer Schulzeit noch ähnliche Geschichten erzählt. Für mich, die ohne physische Gewalt in der Schule aufgewachsen ist, wirkt ein Rohrstock weltfremd. Gut, dass innerhalb des Lehrpersonals seit Kurzem ein Umdenken Einzug hält.

Waisenschule (© Foto: Catharina-E. Comberg)

Der Unterschied zwischen autoritärem Morgenappell mit Uniformkontrolle und ausgelassenem Toben in der Pause könnte nicht drastischer sein. Die unglaublich energetischen Schülerinnen und Schüler verlangten mir einiges ab, steckten mich mit ihrer unkompliziert herzlichen Art aber auch sofort an. Auf Stephanies Einladung hin habe ich mich an einem ihrer Pausenspiele versucht und bin kläglich gescheitert. Prächtig amüsiert haben sich die Kinder daran natürlich trotzdem und ich kann es ihnen nicht verübeln. Ich hatte keine Chance bei ihrem Rhythmus aus Klatschen und Springen mitzuhalten. Die kleinen Quertreiber sind mir sehr ans Herz gewachsen. Als ich nach ein paar Wochen merkte, wie jede und jeder in der Schule seine eigenen kleinen Fortschritte erzielte, ich der Klasse also tatsächlich etwas beibringen konnte, war jede Anstrengung der vergangenen Tage mehr als kompensiert.

Wissbegierige Kinder in der Waisenschule (© Foto: Catharina-E. Comberg)
Waisenschule (© Foto: Catharina-E. Comberg)
Waisenschule (© Foto: Catharina-E. Comberg)

Nahe gegangen ist mir auch die Arbeit in der therapeutischen Abteilung des Rehazentrums. Vor allem Kindern mit zerebraler Kinderlähmung, aber auch mit fehlgebildeten Gliedmaßen, Fehlstellungen und mehr wird hier geholfen. Ich durfte Teil des Teams werden und bei Physiotherapie und orthopädischen Übungen helfen. Mir wurden verschiedene Massagetechniken beigebracht, Trainingsmethoden gezeigt und zahlreiche Krankheitsbilder erklärt. Eines davon ist Zerebralparese. Darunter versteht man eine irreversible Schädigung des Gehirns, während oder kurz nach der Geburt. Je nachdem welche Regionen des Gehirns betroffen sind, können unter anderem Bewegungsstörungen, Lähmungen und Beeinträchtigungen von Sprache und Verhalten auftreten. Symptome und Schweregrad sind individuell sehr verschieden. Was eine solche Diagnose für die Zukunft eines Kindes bedeutet, lässt sich also nicht pauschal sagen.

Werkstatt Team des Rehazentrums (© Foto: Catharina-E. Comberg)

Abgesehen davon, dass mich die medizinischen Inhalte unheimlich interessieren, war die Konfrontation mit so jungen Menschen mit Behinderung etwas, dass ich erst einmal verdauen musste. Denn im Rehazentrum in Duakwa sind drei Mütter einquatiert, deren Kinder an einer besonders schweren Form der Zerebralparese leiden. Berührungsängste hatte ich damit nie. Trotzdem beschäftigten mich die einzelnen Schicksale sehr. Denn Patient:innen mit Zerebralparese sind unheilbar krank. Das Wissen darüber, dass die zweijährige Precilla zum Beispiel ihr gesamtes Leben lang ein vollkommener Pflegefall bleiben wird, nie ein Leben wie Kinder in ihrem Alter wird führen können, Tag ein Tag aus kaum eine Perspektive zu einem Dasein im Bett hat ... das ist eine harte Realität. Precilla hat kaum Kontrolle über Bewegungen ihres Körpers. Ihre Muskelschwäche betrifft auch ihre Gesichtsmuskulatur, weshalb sie ihre Ausrufe nicht zu Worten formen kann. Eine Stunde lang mit dem kleinen Charles zu reden, ohne zu wissen, ob er mich überhaupt hören kann, und zu hoffen, dass sein gelegentliches Zucken mit weit geöffneten Augen vielleicht doch eine Reaktion auf meine Stimme bedeutet … solche Eindrücke gehören mit zu meinem Alltag. Der angeborene Defekt in Charles' Gehirn bewirkt dauerhaft verkrampfte (spastische) Muskeln, deren Aktivität er, wenn überhaupt, nur minimal selbst steuern kann.

Trotzdem weiß ich, dass die Lage keineswegs aussichtslos ist. Die Physiotherapie stärkt die Muskeln und vergrößert Bewegungsspielräume der Kinder. Sie erlernen einfache Bewegungsabläufe und das Training bewirkt, dass die vorhandenen Fähigkeiten nicht verloren gehen. Mit Schienen und speziell in der orthopädischen Werkstatt angefertigten Stühlen wird den Schützlingen das Sitzen und Stehen beigebracht. Ich kann beobachten, wie die kleinen Kämpfer langsam aber sicher Fortschritte machen. Je mehr Zeit ich bei ihnen verbringe, desto besser verstehe ich ihre Reaktionen und angedeuteten Gesten. Dabei fällt mir immer wieder auf, wie viel die Kinder doch von ihrer Umgebung wahrnehmen. Sie kommunizieren sehr wohl, wenn auch nicht über Sprache. Wenn man sich die Zeit nimmt, dem Aufmerksamkeit zu schenken, wird man mit herzerwärmenden Reaktionen überrascht.

Physioteam (© Foto: Catharina-E. Comberg)

Weniger emotional und dafür stärker handwerklich gestaltet sich meine Arbeit in der orthopädischen Werkstatt des Rehazentrums. Hier werden Hilfsmittel zur Korrektur von Fehlstellungen und zur Unterstützung der Kinder im Alltag angefertigt. Gelenkschienen, Krücken,Rollstühle und orthopädische Schuhe sind einige Beispiele. Die Beinschienen für Charles haben wir auch hier hergestellt, damit seine Gelenke gestreckt werden können. Von dem Gehörlosen Collins (rechts auf Teamfoto) durfte ich lernen, wie er maßgefertigte Schuhe für verformte Füße zusammennäht, -hämmert und -klebt. Dieses präzise Handwerk braucht Ruhe und Geduld. Am Ende des Tages sein eigenes Werkstück vor sich zu haben und täglich Fortschritt daran zu sehen,ist sehr motivierend. Außerdem verstehe ich mich großartig mit Collins. Wir schweifen häufiger in Unterhaltungen ab. Zwar hat er sein Gehör verloren, das ist aber nur scheinbar eine Barriere. Er spricht englisch und ist routiniert im Lippen Lesen. Durch ihn konnte ich ein wenig Zeichensprache erlernen. Wenn man sich auf Neues einlässt, öffnen sich so viele Türen.

Physioteam (© Foto: Catharina-E. Comberg)

Als ich dem Team nach meinen ersten Arbeitstagen demonstrieren wollte, dass Frauen tatsächlich zu mehr fähig sind, als Schnittmuster auf Leder aufzeichnen und Bauteile kleben, fanden auch Hammer und Lötgerät ihren Weg in meine Hände. Nachdem die Handwerker ihren ersten Schock verdaut hatten, gestaltete sich mein Aufgabenfeld um einiges aufregender. Metall schneiden, Schienen sägen und mit einer zickigen Nähmaschine Leder vernähen waren einige der Dinge, an denen ich mich hier ausprobierte. Als ich nach einigen Wochen eigenständig arbeiten konnte, wurde ich Teil des eingespielten Teams. In der Gruppe hat sich eine herzliche, heitere Atmosphäre eingestellt, in der ich mich sehr wohl fühle.

Hämmern in der orthopädischen Werkstatt (© Foto: Catharina-E. Comberg)
Stanzen in der orthopädischen Werkstatt (© Foto: Catharina-E. Comberg)

Obwohl mit den Produkten aus der Werkstatt schon vielen Kindern unglaublich geholfen wurde und wird, fehlt die Möglichkeit der Herstellung von Prothesen für Menschen mit Beinamputationen. Der Bedarf ist groß. Die Kosten für den Aufbau einer Prothesenwerkstatt sind größer. Die teuren Maschinen sind bereits aus der Türkei gespendet worden. In Betrieb genommen werden können sie allerdings erst nach einer Erweiterung der zu kleinen Werkstatt und auch nur bei stabiler Stromversorgung. Denn sobald die Bearbeitung der Prothesenmaterialien begonnen hat, müssen manche Prozesse ohne Unterbrechung abgeschlossen werden. Sonst nimmt das Material irreversiblen Schaden und wird unbrauchbar. In Ghana kann konstante Elektrizität nur durch einen Generator gewährleistet werden. Daher habe ich mich dazu entschlossen, eine Spendenaktion für das Projekt zu starten. Von dem Geld werden ein Generator angeschafft und alle nötigen Vorbereitungen getroffen, um endlich die vorhandenen Maschinen anzuschließen und vielen Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Dabei zählt jeder einzelne Euro. Ich wäre euch sehr dankbar, würdet ihr die Zeit finden und euch die Spendenaktion einmal anschauen.

Zur betterplace Spendenkampagne: Prothesen für Ghanas Kinder

Betterplace Spendenkampagne

Wie ihr seht, bin ich ausgesprochen gut beschäftigt. Aus meinem enorm abwechslungsreichen Arbeitsalltag nehme ich sehr viel mit, vor allem Freundschaften. Mein geduldiges, interessiertes, energetisches Kollegium trägt einen beträchtlichen Anteil daran, dass meinen Freiwilligendienst so eine wertvolle und unvergessliche Erfahrung ist. Viele Dinge im Rehazentrum fordern mich heraus und beeindrucken mich nachdrücklich. Vor allem aber lerne ich unglaublich viel. Ich bin gespannt, was bis September noch alles auf mich zukommt.

Catharina-E. Comberg

Catharina-E. Comberg, geboren 2004 in Saarbrücken, besuchte bis 2022 das Gymnasium Marienschule Saarbrücken und erwarb dort abschließend das Abitur. Nachdem sie an mehreren Schüleraustauschprogrammen nach Frankreich teilnahm und zwei Monate in Südafrika die Schule besuchte, verbringt sie seit September 2022 einen zwölfmonatigen Freiwilligendienst in Ghana. Ihre „Briefe aus Ghana“ berichten von ihren kulturellen, kulinarischen und gesellschaftlichen Erfahrungen sowie ihrer Arbeit in einem medizinischen Zentrum der Heilsarmee.

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