Kulturwanderweg

Susanne Weiss // Februar 2024

Der Wegweiser - Ein Europäischer Kulturwanderweg auf den Spuren Johann Gottfried Seumes

Johann Gottfried Seume (1763 bis 1810), der Aufklärer unter den Aufklärern
Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Ich bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen.

In Zeiten, in denen Langsamkeit schon ein Akt der Dissidenz ist, lenkt das Credo des Johann Gottfried Seume (1763 bis 1810) den Blick auf eine mutige Art des Reisens. Die Gesellschaft, die seinen Namen trägt, überträgt das Abenteuer, in das der berühmteste Spaziergänger deutscher Sprache sich einst stürzte, in die Gegenwart. „Seume suchte die Herausforderung“, erklärt Lutz Simmler, 1. Vorsitzender der Internationalen Johann-Gottfried-Seume-Gesellschaft „Arethusa“, „und wir tun das auch.“ Auf Seumes Weg, von Grimma in Sachsen nach Syrakus auf Sizilien, entsteht ein Europäischer Kulturwanderweg mit Markierungen und Stationen und mit ihm – ganz im Sinne Seumes – ein internationales Netzwerk mit Partnern aus Kultur, Tourismus und Forschung, um Menschen und Orte miteinander zu verbinden.

Übrigens bin ich nicht nach Italien gegangen, um vorzüglich Kabinette und Gallerien zu sehen, und tröste mich leicht mit meiner Laienphilosophie.

Ein abenteuerlicher Plan

Johann Gottfried Seume, der nach mehr oder weniger freiwilligen Militärabenteuern ein Mann des Geistes und des Buches wird, lektoriert seit 1797 im sächsischen Grimma für seinen Freund, den Verleger Georg Joachim Göschen, die literarischen Größen seiner Epoche – nicht immer zu deren Vergnügen und bald auch nicht mehr zu seinem eigenen. „Wenn ich so fort korrigiere fürchte ich nur, mein ganzes Leben wird ein Druckfehler werden“, schreibt er an einen Freund. Seume schmiedet einen abenteuerlichen Plan. Er wird zu Fuß nach Sizilien reisen und zu Fuß auch wieder zurückkehren. Im Dezember 1801 bricht er auf, blickt kurz zurück auf „die schöne Gegend“ und die Bergschluchten, in denen „kein Pfad und kein Eichbaum“ ihm unbekannt sind, überquert die Alpen und folgt dem Weg nach Süden auf seinem eigenen Kulturwanderweg, der nicht nur die üblichen Verdächtigen unter den Sehenswürdigkeiten in den Blick nimmt, sondern sich vielmehr auch den Menschen zuwendet und den Verhältnissen, in denen sie leben.

„Seumes Reiseroute“ von Grimma nach Syrakus

Anfänge

Die Seume-Gesellschaft mit Sitz in Grimma bewahrt das Erbe des ungewöhnlichen Mannes mit Methoden, die weit über trockene Musealität hinausgehen. Im Zuge ihres enthusiastischen Engagements stellte sich schnell heraus, dass der unkonventionelle und manchmal sperrige Spaziergänger und Autor eine besondere Anziehungskraft auf alle diejenigen ausübt, die mit ihm in Berühung kommen. So nimmt es nicht wunder, dass die Vorhaben der Gesellschaft seit der Gründung 1998 dynamisch voranschreiten. Im Leipziger Muldenland, wo Seume seine Reise begann, hat die Erschließung des Kulturwanderweges durch das Engagement begeisterter Partner und Freunde bereits konkrete Formen angenommen. Auch erste internationale Mitstreiter sind mit von der Partie.

Seumes vermutliche Route und Route des Wanderweges 1. Etappe

Weiter nach Süden

Über Dresden führt Seumes Weg weiter Richtung Prag. Die Landschaft tut es ihm mehr an als die Dresdner Kunstschätze. „Der Weg von Peterswalde nach Aussig ist rauh, aber schön“, schreibt er. Bei Aussig an der Elbe ist der Weg wild romantisch mit all seinen Schluchten und Felsenwänden zwischen hohen Bergen. Aussig, wie es bei Seume heißt, ist ein alter Handelsplatz an der schiffbaren Elbe, auf tschechisch Ústí nad Labem. Seine Ursprünge reichen bis ins Mittelalter zurück. Heute ist die Stadt ein bedeutender Industriestandort, der seit 1991 eine renommierte Hochschule beherbergt. In der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität ist der Reiseabenteurer Seume kein Unbekannter, und dort, wie in Grimma, ist man entschlossen, sein Erbe weiterzutragen. In Workshops mit Studierenden der Universität geht die Arbeit am Kulturwanderweg auf die tschechische Etappe. Ein erster Workshop fand 2022 in Grimma statt.

Universität Usti

Kunstsachen, Kirchen und Armut

Über Prag gelangt Seume nach Wien, wo ihn sein Freund und Begleiter, der Maler Veit Hanns Friedrich Schnorr von Carolsfeld mit allerhand Bedenken im Tornister verlässt. Seume befasst sich auch in „Vienna gloriosa“ nur zurückhaltend mit den vorfindlichen „Kunstsachen“, freut sich aber über die Freundlichkeit der Bewohner. Er zieht weiter nach Graz, das er am 14. Januar 1802 erreicht. Von dort geht es weiter nach Lubljana, bei Seume „Laibach“, und langsam nähert er sich Italien. Über Triest erreicht er Venedig, wo er 20 Kirchen in einigen Stunden besichtigt, wie er leicht stöhnend schreibt. „Die Venetianer sind übrigens im allgemeinen höfliche, billige, freundschaftliche Leute,“ freut er sich, und Venedig könnte eine schöne Impression sein, wäre da nicht die schreckliche Armut der Menschen.

Morgen will ich über Padua am Adria hinabwandeln und mich so viel als möglich dem Meere nahe halten, bis ich hinunter an den Absatz des Stiefels komme und mich an den Aetna hinüberbugsieren lassen kann.

Die Emilia Romagna um Bologna glänzt in Seumes Augen mit reichen, fetten Böden. Es ist Februar. In Imola gerät er in den Fasching. Mehr und mehr ist Seume verzaubert von den italienischen Landschaften, bewundert die herrlichen Aussichten und wunderschönen Anhöhen, „geschmückt mit jungem Weizen und Ölbäumen“ und bestaunt die frühe Blüte mancher Nutzpflanzen. Durch „herrliche“ Gegenden geht es weiter nach Loretto [Loreto] „immer nach Macerata zu“.

Wenn ich überall eine solche Kultur fände wie von Ancona bis Macerata und Tolentino, so wollte ich fast den Mönchen ihre Möncherei verzeihen. In Macerata bewillkommte mich im Tor ein päpstlicher Korporal und nahm sich polizeimäßig die Freiheit, meinen Paß zu beschauen.

Macerata

Wie Ústí an der Elbe in Tschechien ist Macerata nahe der adriatischen Küste eine mittelalterliche Stadt. Sie beeindruckt mit imposanten Stadtpalästen, einer Opernfreilichtbühne und einer der ältesten Universitäten Europas, gegründet 1540. An der Università degli Studi di Macerata erforscht man die obligatorische „Grand Tour“ der Söhne des europäischen Adels und des gehobenen Bürgertums, die auf der Suche nach Bildung und erhabenen Gefühlen nach Italien kamen. Gemeinsam mit der Seume-Gesellschaft wird die Universität in gemeinsamen Aktivitäten Theorie und Praxis miteinander verbinden.

Die Università degli Studi di Macerata

Richtung Rom

Auf seiner ganz eigenen Grand Tour durchquert Seume den italienischen Stiefel und nähert sich langsam Rom, dem Sehnsuchtsort der antikenbeflissenen großen Geister seiner Zeit. Klassisch ausgebildet, absolviert er zwar ein Bildungsprogramm, besucht Museen und Sammlungen, aber als Hochburg des katholischen Klerus ist die „Ewige Stadt“ nicht ganz seine Sache, wenn er sich auch über die Aussicht vom Castel Gandolfo aus nicht beklagen will.

Aussicht vom Castel Gandolfo
Die Università degli Studi di Macerata

Im März 2024 ist das Castel Ziel einer Freundschaftswanderung mit einer wichtigen Verbündeten für das große Vorhaben, der Casa di Goethe, wo einst ihr Namensgeber während seiner Italienreise in einer Künstler-WG bei seinem Feund, dem Maler Tischbein, lebte. An der Casa di Goethe als Museum ist nichts konventionell. Die Dauerausstellung lebt vom Respekt gegenüber dem berühmten Gegenstand, aber nicht von kritikloser Ehrfurcht – Seume hätte sicher Gefallen daran gefunden. Auch die regelmäßigen Wechselaussstellungen, zwei Bibliotheken, ein Stipendiatenprogramm und zahlreiche Veranstaltungen dienen erfolgreich dem deutsch-italienischen Kulturaustausch.

Seume zieht weiter nach Süden und lässt für alle, die seinem Weg folgen wollen, das Schönste hoffen.

Dieses ist als das schöne, reiche, seelige Kampanien, das man, seit es so bekannt ist, zum Paradiese erhoben hat, für das die römischen Soldaten ihr Kapitol vergessen wollten!
Orangenhain (© Foto: Susanne Weiss)
Italien Landschaft
Olivenhain in Italien

Er ist begeistert vom „Zauberort“ Neapel, den er schweren Herzens auf einem Kauffahrteischiff Richtung Palermo verlässt und betritt schließlich sizilianischen Boden. Er ist fasziniert von der Schönheit des Landes, den Ölbäumen und Orangengärten, durchstreift die Insel auf Mauleseltriften, erklimmt den Kraterrand des Ätna, wandert die Küsten entlang und bewundert die unterirdischen Getreidespeicher von Agrigent.

Am Ziel

Bald hat Seume Syrakus, das Ziel seiner Reise, erreicht. Er staunt über die „ungeheure Fläche“ der antiken Stadt, der pulsierenden Metropole und Kulturhauptstadt ihrer Zeit. Hier traf sich alles, was in der griechischen Zeit Siziliens Rang und Namen hatte. Die Quelle Arethusa, welche die Seume-Gesellschaft im Namen trägt, ist für ihn eine „der schönsten und sonderbarsten, die es vielleicht gibt.“ Doch eines freut ihn besonders. Man lässt ihn alle Tore der Festung anstandslos passieren. „Das war doch eine artige, stillschweigende Anerkennung meiner Qualität. Den Spaziergänger läßt man gehen.“

„Fonte Aretusa“ - Eine der schönsten und sonderbarsten Quellen, die es vielleicht gibt

Über Catania, Messina, Palermo, Neapel, Rom, Mailand, Zürich, Paris, Frankfurt und Leipzig reist er, nicht immer zu Fuß, zurück nach Grimma, wo er ausruhen will. Neun Monate war der Spaziergänger unterwegs, hat schlechtes Wetter, Kälte, Sümpfe und zahllose Passkontrollen gemeistert. Heute findet man überall Schutz vor schlechtem Wetter und Kälte. Die Sümpfe sind trockengelegt, und auf einem Europäischen Kulturwanderweg erübrigen sich Passkontrollen.

Das Buch

Im September 1802 ist Seume wieder in heimischen Gefilden. Im Frühjahr 1803 erscheint „Spaziergang nach Syrakus“, eine wenig romantisierende Mischung aus persönlichen Impressionen und präzisen Berichten, die bei allem Staunen über Schönheit und antike Größe Leben und Wirklichkeit einfacher Menschen nicht auslässt. Er erkundet ihr alltägliches Leben und analysiert mit scharfem Blick die politischen Verhältnisse, die zahllose Menschen in Fron und Armut zwingen. Schonungslos kritisiert er feudalistisch-absolutistische Strukturen, Ungleichheit, soziale Ungerechtigkeit, unverdiente Priviligien und den allfälligen Mangel an Freiheit. Als Verantwortliche macht er Klerus und Adel aus. Sein Buch verkauft sich ausgesprochen gut, sehr zum Unmut des antikenseligen Bildungsbürgertums, dem es mit seinem kritischen die gewünschte Selbstvergewisserung verweigert, die es aber Jahre später in Goethes „Italienischer Reise“ gewinnen sollte.

1810 stirbt Johann Gottfried Seume nach langer Krankheit, gerade einmal 47 Jahre alt. Nach wie vor entzieht er sich üblichen Kategorien, und in seinem Tiefenblick auf Kultur, Politik und Gesellschaft ist er auch heute noch mehr als aktuell.

Das große Vorhaben der Seume-Gesellschaft, der Europäische Kulturwanderweg, der Seumes Spuren folgt, wird durch herrliche Landschaften führen, lädt ein, grandiose Zeugnisse alter und moderne Kultur zu bestaunen, ermutigt aber auch – im Sinne Seumes – einen anderen Blick auf die Dinge zu werfen. Mit Seume als Wegweiser in mehr als einem Sinne.

Anmerkung des Verlags: Wir weisen bei dieser Gelegenheit auf das Buch über J.G. Seume in unserem Verlagsprogramm hin: Johann Gottfried Seume von Otto Werner Förster. Seume-Reihe ‚Seume Passagen‘, 2018, 1. Auflage, 164 S., geb., 19,90 €, ISBN: 978-3981885002 / ISBN: 978-3981885026

Buchcover Johann Gottfried Seume

Weitere Werke von Johann Gottfried Seume (kleine Auswahl)


Internationale Johann-Gottfried-Seume-Gesellschaft
„ARETHUSA“ e. V.

Sitz: Museum Göschenhaus
Seume-Gedenkstätte, Schillerstraße 25, 04668 Grimma
Homepage: Seumegesellschaft-Arethusa.de

Susanne Weiss

Irgendwann, am Ende der Schulzeit, dämmerte es Susanne Weiss, dass das, was wir über Mensch, Kultur, Geschichte und Wissenschaft lernten, wohl nicht alles gewesen sein konnte. Also studierte sie Ethnologie (in Bonn, München und Berlin) und erlernte den Perspektivwechsel vor allem auf Reisen in ferne Weltgegenden und in gute Bücher. Das Scheibhandwerk erlernte sie bei Profis in den Pressestellen wissenschaftlicher Einrichtungen und bei Zeitungen, für die sie all das Komplizierte auf den lesbaren Punkt brachte. In der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, im Berliner Botanischen Garten und an der Freien Universität Berlin verbrachte sie schreibend und publizierend 15 öffentlich-dienstliche Jahre. 2002 ging sie, gründete Wortwandel (wortwandel.de), entwickelt und bestückt seitdem Magazine, schreibt Bücher (auch für andere Leute), moderiert, unterrichtet und begleitet Menschen aus Wissenschaft und Foschung bei Buchprojekten – insbesondere bei Biografien und Autobiografien. 2023 kam ein neues größeres Vorhaben hinzu: „Schreiben am Meer“.

Journal

Hitzluapitzli

Dr. Rainer Sandweg

Der Steiger kommt!

Peter Winterhoff-Spurk

Neuer Reineke Fuchs Kapitel 1-4

Eingelesen von Matthias Girbig

Social Media Kanäle abonnieren