Hitzluapitzli

Dr. Rainer Sandweg // Oktober 2023

Hitzluapitzli Gemälde von Dr. Rainer Sandweg

Es ist jetzt schon einige Zeit her. Der Herbst war gekommen und das Wetter an jenem Samstag war nicht so besonders. Mittags hatte es geregnet, dann hatte der Regen nachgelassen, ein Wind war aufgekommen und hatte die Wolken vertrieben. Bei solchem Wetter gehe ich gerne spazieren. Die Luft ist frisch, der Wald duftet - besonders im Herbst - und ich habe einfach Lust loszulaufen. Also überredete ich meine beiden Kinder, Babette und Florian, spazieren zu gehen, obwohl sie eigentlich nicht so begeistert davon waren. Ich sollte ihnen wenigstens auf dem Spaziergang eine Geschichte erzählen, damit es nicht so langweilig würde. Florian war für Indianergeschichten.

Indianergeschichten. Früher hatte ich Lederstrumpf und Karl May gelesen, später Wildwestfilme gesehen. Darin waren Indianer meist die Bösen und überfielen Postkutschen mit schönen Frauen drin. Dann hatte ich gelesen, dass das mit den lndianern eigentlich ganz anders gewesen war. Die Weißen haben sie aus ihrem Land vertrieben und sie in eine so Art Lager gesteckt, das sie Reservat nannten. Die Indianer haben sich damals tapfer gewehrt, aber die Weißen hatten Gewehre und Kanonen und die Indianer nicht. Heute sind Indianer zum großen Teil nicht mehr so tapfer und viele von ihnen trinken Alkohol, weil sie sich nicht daran gewöhnen konnten, wie die Weißen zu leben. Sie wollen das auch gar nicht, weil sie ihr eigenes Leben viel schöner finden.

Aber diese traurigen Sachen mochte ich nicht erzählen, außerdem wusste ich nicht, ob man das mit 5 oder 7 Jahren schon verstehen kann. Dann fiel mir ein, dass ich vor nicht allzu langer Zeit ein Buch mit Märchen von Indianern gelesen hatte, solche, die sie sich selbst erzählt hatten, abends vor dem Wigwam am Lagerfeuer sitzend. Meistens erzählten die Alten die Geschichten. Es waren sehr schöne Geschichten, viele waren auch lustig, es gab Götter und Hexen und Zauberer und die Tiere konnten noch sprechen. Nun, so eine Geschichte hätte ich vielleicht nacherzählen können, aber da merkte ich, dass bei mir alle im Kopf durcheinander gingen und ich keine einzige mehr so richtig zusammen bekam. Und deshalb fing ich an zu erzählen, was mir gerade einfiel. Am Anfang der Geschichte wusste ich noch nicht, wie sie ausgeht, aber ich fing einfach mal an und das ging so:

Wie Hitzluapitzli den Häuptling Großer Bär aus einer großen Gefahr befreit

Hitzluapitzli schlich eng am Boden durch das Gras. Er bewegte sich sehr vorsichtig und passte genau auf, dass er nicht auf einen trockenen Ast trat, der ein verräterisches Geräusch machen konnte. Auch das Rascheln von trockenen Grashalmen musste er vermeiden. Außerdem durfte man der Bewegung des hochgewachsenen Büffelgrases nicht ansehen, dass darin jemand herumkroch. Der, dem er nachschlich, war ein erfahrener Jäger, der alles um sich herum so genau beobachtete. Schon das leiseste Geräusch hätte ihn gewarnt. Es war der Häuptling des Stammes, genannt Großer Bär, ein großer Krieger, vor dem alle Feinde zitterten und dessen Name weit im Land bekannt war. Hitzluapitzli war ihm heimlich gefolgt um zu sehen, wie Großer Bär es anstellte, fast immer mit Beute nach Hause zu kommen. Er selbst hatte schon oft versucht, es den Großen nachzumachen, war mit seinem Bogen und Pfeilen bewaffnet über die Steppe oder durch die Wälder gestreift und hatte versucht, einen Hirsch oder wenigstens ein Kaninchen zu erlegen, aber so sehr er sich auch Mühe gab, zu mehr als ein paar Kaninchen hatte er es bisher nicht gebracht.

Hitzluapitzli wußte nicht genau, wie alt er war, die Indianer feiern nämlich nicht Geburtstag. Auf jeden Fall war er schon über zehn Jahre alt. Über zehn Winter hatte er schon erlebt, wie das in der Indianersprache heißt. Die Indianer zählen die Jahre nach den Wintern. Sein Name Hitzluapitzli heiBt in unserer Sprache „Weiße Feder“. Er hatte ihn bekommen, weil er sich schon vor 2 Jahren eine weiße Feder ins Haar gesteckt hatte, wie es die jungen Männer tun, wenn sie in den Kreis der Krieger aufgenommen werden. Damals hatte er gesagt, er sei jetzt groß genug, um auch Krieger zu werden. Die Leute im Dorf hatten darüber gelacht und ihm den Namen Hitzluapitzli gegeben. Erst hatte er sich darüber geärgert, aber dann hatte er den Namen eigentlich ganz schön gefunden und sich daran gewöhnt, wenn seine Freunde ihn so riefen.

Nach verschiedenen Jagdabenteuern mit seinen Freunden, die, wie gesagt, keinen so rechten Erfolg erbracht hatten, waren sie zu der Überzeugung gelangt, dass die Großen über besondere Kräfte, vielleicht sogar Zauberkräfte verfügen, weil sie große Tiere erlegen können, wie z.B. Büffel oder Hirsche oder Wölfe. Vielleicht war es möglich, hinter das Geheimnis zu kommen, das den Erwachsenen half, bei der Jagd so erfolgreich zu sein. So beschlossen die Jungen, dass einer von ihnen dem Häuptling bei der Jagd nachschleichen sollte. Die Wahl, wer von ihnen das sein sollte, fiel ihnen nicht schwer: Hitzluapitzli war sowieso der Neugierigste von allen und da sie alle ein wenig Angst hatten, sagten sie: „Das kannst Du doch machen, Hitzluapitzli !“ Der war zwar auch ängstlich und wollte schon fragen: „wieso eigentlich ich?“. Aber er war auch ein bisschen stolz darauf, dass die anderen ihm das zutrauten und deshalb biss er sich auf die Lippen und sagte nichts. Es war also abgemacht: Hitzluapitzli sollte dem Häuptling Großer Bär auf der Jagd heimlich folgen. Er wusste, dass dieser morgens sehr früh aufstand, um zur Jagd zu gehen. Hitzluapitzli verschlief nicht und es gelang ihm, dem Häuptling zu folgen, als dieser das Lager verließ.

Jetzt schlich er also hinter ihm her und bemühte sich, kein einziges Geräusch zu machen - das lernen Indianer-Kinder ganz früh. Während sie sich durch das hohe Büffelgras bewegten, das noch vom Tau der Nacht ganz nass war, ging im Osten die Sonne wie ein roter Feuerball auf. Der Häuptling lief nun schneller, denn er hatte frische Spuren von Büffeln ausgemacht. Plötzlich blieb er stehen und schaute aufmerksam in die Gegend. Hatte er etwas bemerkt? Hitzluapitzli verhielt sich reglos, noch immer bewegte der Häuptling sich nicht. Da hörte Hitzluapitzli vor sich ein leises Knacken und dann sah er auch schon, wie sich ganz langsam ein rotbrauner Körper durch das Gras bewegte. Er bekam einen furchtbaren Schreck. Wer war das? Ein Krieger aus dem eigenen Stamm konnte es nicht sein, denn der würde nicht so herumschleichen. Hitzluapitzli presste sich so fest wie möglich an den Boden und durch die Grashalme sah er dann mehrere Krieger heranschleichen, fast so nahe, dass er sie mit der Hand berühren konnte. Sie versuchten offenbar, dem Häuptling in den Rücken zu fallen. Was sollte er tun? Er konnte nicht schreien und den Häuptling warnen, es waren zu viele. So musste er mit ansehen, wie sich plötzlich die bunt bemalten fremden Krieger erhoben, ein fürchterliches Geheul anstimmten und sich alle zusammen auf Großer Bär stürzten. Der war zu überrascht um sich zu wehren. Außerdem waren Angreifer so in der Überzahl, sicher zehn oder mehr. Der Häuptling war auch nicht auf einen Kampf eingerichtet, er hatte nur seine Jagdwaffen mit, nicht einmal einen Schild, mit dem er sich schützen konnte. Es ging ganz schnell Sie fesselten dem Häuptling die Arme auf den Rücken, stießen ihn vorwärts und entfernten sich mit ihm.

Hitzluapitzli war so erschrocken, dass er im ersten Moment nichts tun konnte. Die Feinde hatten ihn nicht bemerkt. Er setzte sich ins Gras und überlegte: Sollte er ins Dorf zurücklaufen und Hilfe holen? Das war nicht möglich, denn sie hatten sich schon zu weit vom Dorf entfernt, die Hilfe wurde zu spät kommen. Er musste also auf eigene Faust den Feinden folgen, vielleicht konnte er dem Häuptling noch irgendwie helfen. Die Feinde waren schon ein paar hundert Meter voraus und fühlten sich anscheinend ganz sicher. Sie lärmten., schwatzten und freuten sich, dass sie den berühmten Häuptling gefangen hatten. Deshalb war es für Hitzluapitzli nicht schwer, ihnen zu folgen.

Es war ein weiter Weg, den sie zurücklegten. Über Mittag machten die Entführer unter einem großen Baum im Schatten Rast. Nachdem sie gegessen hatten, zogen sie weiter. Zum Glück waren sie an einem kleinen Bach vorbei gekommen, sodass Hitzluapitzli seinen starken Durst löschen konnte. Hunger hatte er nicht, denn dazu war er zu aufgeregt, aber der Durst hatte ihn schon seit einiger Zeit geplagt. Die Sonne ging schon beinahe unter, als sie am feindlichen Dorf anlangten. Die Entführer wurden mit einem Freudengeheul begrüßt. Ganz genau konnte Hitzluapitzli, das nicht sehen, denn er war etwas zurückgeblieben. Er wusste, dass das Dorf bewacht war und musste sich vor feindlichen Kriegern in Acht nehmen. Indianer sind ja besonders wachsam, wenn sie gegen einen anderen Stamm das Kriegsbeil ausgegraben haben und so wusste Hitzluapitzli, dass er besonders aufpassen musste. In seinem Dorf war das genauso.

Er setzte sich in einem Gebüsch nieder und wartete ab. Er war müde und erschöpft von der langen Lauferei. So viel war er in seinem ganzen Leben noch nicht gelaufen wie an diesem Tag. Die Beine taten ihm richtig weh. Als er ein wenig zur Ruhe gekommen war, fühlte er sich sehr allein. Am liebsten wäre er jetzt zu Hause bei seinen Eltern und Geschwistern gewesen, im Dorf, wo er sicher war. Wie gerne hatte er jetzt am Lagerfeuer vor dem Wigwam seines Vaters gesessen und zugehört, wie sein Großvater Geschichten erzählte. Abenteuer sind zwar spannend, wenn sie erzählt werden, deshalb hatte er sich auch oft gewünscht, ein richtiges Abenteuer zu erleben. Aber jetzt merkte er, wie schwierig das war. Er wurde traurig und die Tränen kamen ihm.

Er mußte eingeschlafen sein, denn als er wieder die Augen aufmachte, war es schon dunkel. Er spürte die Kälte der Nacht vom Boden hochsteigen. Ganz in der Nähe schrie ein Käuzchen, hohl und unheimlich, aber noch unheimlicher war in dumpfes Trommeln: tam – tatam - tatam – tatam. Eine Kriegstrommel. Sicher hatten sie in der Mitte des Zeltplatzes ein großes Feuer entzündet und einen Marterpfahl errichtet, an den der Häuptling Großer Bär gebunden hatten.

Hitzluapitzli nahm seinen ganzen Mut zusammen und schlich mit pochendem Herzen näher. Vorsichtig auf allen Vieren, jedes Stückchen Erde vorher mit den Händen abtastend. Er durfte auf keinen Fall ein Geräusch machen. Zu seiner Linken sah er dunkle Schatten, die sich bewegten. Sie erschreckten ihn nicht, denn er hatte zuvor schon ein leises Schnauben gehört und wusste, dass es die Pferde des Dorfes waren. Sie waren mit den Vorderhufen zusammnengebunden, damit sie nicht weit weglaufen konnten. Nach ungefähr einer halben Stunde hatte sich Hitzluapitzli dem Kreis der Wigwams so weit genähert, dass er im Schein des großen Lagerfeuers Einzelheiten erkennen konnte. Tatsächlich saßen sie dort im Kreis um ein großes Feuer. Eine Reihe von buntbemalten Kriegern tanzte mit gebeugtem Kopf und Rücken, einen Speer oder ein Kriegsbeil in der Hand haltend, um das Feuer herum. Sie sprangen dabei von einem Bein auf das andere und stießen wilde Schreie aus während sie sich im Kreis bewegten. Die anderen klatschten zum Klang der Trommeln in die Hände. Hitzluapitzli sah auch den bunt geschnitzten Marterpfahl mit den grässlichen Fratzen. Es gab ihm einen Stich ins Herz, den stolzen Häuptling Großer Bär gefesselt zu sehen. Aufrecht stand er da und hatte den Blick in die Ferne gerichtet, voll Verachtung über seine Feinde, die ihn so hinterlistig überfallen hatten.

Hitzluapitzli war verzweifelt, er sah, dass sie den Häuptling verbrennen würden. Vor seinen Füßen lag schon das Holz aufgeschichtet, das sie,, wenn der Kriegstanz seinen Höhepunkt erreichte, anzünden würden. Dann musste Großer Bär qualvoll verbrennen. Hitzluapitzli fühlte sich ganz schwach und klein. Gegen die Übermacht der Krieger konnte er nichts ausrichten, was sollte er bloß tun? Er sah am anderen Ende des Dorfes einen weiteren schwachen Lichtschein, der wohl von einem kleineren Feuer kam, auf dem die Frauen vor dem Wigwam Essen kochten. Plötzlich hatte er einen Einfall:

Er schlich vorsichtig in Richtung auf das kleine Feuer, wobei er einen Bogen um das Dorf schlagen musste. Immer wieder musste er seine Ungeduld bekämpfen, um nicht aufzuspringen und loszurennen. Aber das durfte er auf keinen Fall, denn das kleinste Geräusch hätte ihn verraten. Dann hätten sie ihn neben dem Häuptling an den Marterpfahl gebunden und er wurde ebenfalls einen qualvollen Tod in den Flammen sterben. Endlich gelangte er von der Rückseite der Zelte zu dem kleinen Feuer. Er wartete eine Weile, aber nichts rührte sich. Kein Mensch war zu sehen, sicher waren sie alle auf dem Dorfplatz beim Kriegstanz. Hitzluapitzli schlich sich bis zu dem Feuer vor, ergriff ein halb angebranntes Stück Holz und schlich zurück bis an die Rückwand der Zelte. Er hielt das glühende Holz an eine Zeltwand und blies kräftig darauf. Das trockene Fell fing schnell Feuer. Schon war er am nächsten Zelt und bald brannten drei oder vier Zelte lichterloh, so dass das ganze Dorf beinahe taghell erleuchtet war. Ein gellender Schrei ertönte vom Festplatz her und schon kamen die ersten Leute schreiend und aufgeregt herbeigelaufen. Hitzluapitzli brauchte jetzt nicht mehr vorsichtig zu schleichen, denn bei dem Lärm und der Aufregung wurde er sowieso nicht bemerkt. Er rannte so schnell er konnte im Bogen zurück zur anderen Seite des Dorfes, wo der fürchterliche Marterpfahl stand.

Der Hauptling Großer Bar hatte als erster den Feuerschein bemerkt. Aber er hatte - ohne eine Miene zu verziehen - abgewartet, was nun geschehen würde. Als seine Feinde das Feuer bemerkten, waren sie alle dorthin gerannt, um so rasch wie möglich das Feuer zu loschen, denn die Gefahr, dass es sich über das ganze Dorf ausbreitete, war bei den leicht brennbaren Zelten groß. Man hatte ihn achtlos am Marterpfahl stehen lassen. Plötzlich spürte er, wie jemand an den Fesseln um seine Handgelenke zerrte. Hitzluapitzli schnitt mit seinem Messer die Fesseln durch. Der Häuptling sprang mit einem Satz zur Seite in die Dunkelheit und wäre beinahe auf Hitzluapitzli gefallen. „Hitzluapitzli, Du?“ Sie rannten zu den Pferden und schnitten zweien die Fußfesseln durch. Hitzluapitzli saß schon auf. „Warte noch“, flüsterte der Häuptling, und rasch befreite er die anderen Pferde auch noch von ihren Fußfesseln. Die rannten erschreckt vom Feuer davon und mussten später erst wieder mühsam eingefangen werden. Der Häuptling Großer Bär schwang sich auf das Pferd, das Hitzluapitzli für ihn festhielt. Zum Glück können Indianer ohne Sattel reiten und so preschten sie mit den Pferden davon. Zunächst hörten sie noch den Lärm vom Dorf. Wenn sie sich umdrehten, konnten sie den Feuerschein sehen. Aber nachdem sie eine Weile geritten waren, verblasste der Feuerschein und tiefschwarze Nacht umgab sie. Deutlich sah man die Sterne am Himmel, so nahe, dass Hitzluapitzli glaubte, er könne sie mit den Händen greifen.

Als sie weit genug entfernt und es wagen konnten, laut miteinander zu sprechen, sagte der Häuptling „Hitzluapitzli, Du hast mir das Leben gerettet, das vergesse ich Dir nie“, und Hitzluapitzli war stolz, dass alles gut ausgegangen war. Er musste erzählen, was alles passiert war und mehrfach lobte der Große Bär das umsichtige Verhalten und den Mut. Als er dann sagte: „Aus Dir wird sicher einmal ein tüchtiger Krieger“, war Hitzluapitzli beinahe ein bisschen enttäuscht, denn er hatte sich schon für einen richtigen Krieger gehalten und dachte, er brauchte sich nicht mehr anzustrengen, um noch einer zu werden.

Aber er war ja wirklich noch ein bisschen jung und vielleicht machte das auch keinen Spaß, immer nur mit den Erwachsenen zusammen zu sein. Sie waren nun schon eine Weile geritten und der Himmel färbte sich schon wieder rot, um den neuen Tag anzukündigen. Der Häuptling gab ein Zeichen anzuhalten und zu lauschen. Hatten sie nicht ein Geräusch vor sich gehört? Sie ließen sich beide geräuschlos vom Pferd gleiten und schlichen leise vorwärts. Tatsachlich hörten sie kaum zehn Meter vor sich entfernt mehrere Männer mit leiser Stimme reden. Hitzluapitzlis Herz klopfte plötzlich wie wild vor Freude, als er unter den Stimmen die seines Vaters erkannte. Das Dorf hatte - nachdem sie bemerkt hatten, dass der Häuptling und Hitzluapitzli verschwunden waren - einen Suchtrupp entsendet, um zu sehen, was mit den beiden passiert war. Sie waren in der Dunkelheit nur lang am vorangekommen und hatten sich gerade zusammengesetzt, um zu beraten, was weiter passieren sollte. Als die beiden ganz sicher waren, dass es sich um ihre eigenen Leute handelte, sprangen sie mit einem Satz mitten unter die Krieger, was bei denen natürlich zunächst einen Schreck auslöste. Als sie aber erkannten, wer da zu ihnen gestoßen war, wären sie beinahe in ein Freudengeheul ausgebrochen. Nur die Vorsicht, die die Indianer draußen nie verlässt, hielt sie zurück und so gab es nur ein erregtes Getuschel. Großer Bär erklärte ihnen mit wenigen Sätzen, was passiert war und dann sagte er: „Ich glaube, dass die uns verfolgen werden, wenn sie ihre Pferde wieder eingefangen haben, am besten wir reiten bis zur Schlucht und legen uns auf die Lauer“. Und so geschah es auch, sie ritten bis zur großen Schlucht und versteckten sich hinter den Felsbrocken. Es vergingen etwa eineinhalb Stunden, da hörte man vom Eingang der Schlucht das klagende Rufen eines Käuzchens - dreimal hintereinander. Das war das verabredete Zeichen des Wachpostens, wenn der Feind nahte. Es waren acht Krieger, sieben zu Pferde, einer lief gebückt am Boden entlang, um die Spuren der Verfolgten besser erkennen zu können. Als die Feinde mitten in der Schlucht waren; sprangen die Krieger plötzlich mit einem wilden Schrei hinter den Felsblocken hervor, jeder einen Pfeil im Bogen.

Die Gegner mussten erkennen, dass sie in eine böse Falle geraten waren und keine Möglichkeit hatten, Widerstand zu leisten. Sie ergaben sich und wurden gefesselt. Man wollte sie im Triumphzug ins Dorf bringen. „Was soll denn mit ihnen geschehen?“, fragte Hintzluapitzli.

„Na, ganz klar, wir werden sie an den Marterpfahl binden und dann verbrennen, wie sie es mit unserem Häuptling versucht haben“.

Hitzluapitzli machte ein nachdenkliches Gesicht: „Ich finde das nicht so gut. Wenn wir das machen, kommen bestimmt wieder welche von denen und fangen welche von uns, die sie dann umbringen. Dann fangen wir wieder welche von denen usw., man kann ja dann gar nicht mehr in Ruhe jagen gehen.“

Die Kriegerschauten sich verblüfft an. „Und was würdest Du mit ihnen machen, Hitzluapitzli?“

„lch würde ihnen die Waffen und die Pferde abnehmen, sie nackend ausziehen und nach Hause jagen, das reicht“.

Die Krieger waren ganz verdutzt, so etwas hatten sie in ihrem Kriegsrat noch nie besprochen. Der Häuptling Großer Bär war der erste, der lachte.

„Hitzluapitzli, das ist der komischste Rat eines Kriegers, den ich je gehört habe, aber Du hast mir das Leben gerettet, deshalb wollen wir es so machen, wie Du es vorschlägst und vielleicht“ , fügte er nachdenklich hinzu, „hast Du sogar recht.“

Gesagt, getan, unter großem Gejohle wurden die feindlichen Krieger splitternackt ausgezogen. Sobald sie frei waren, rannten sie davon, so schnell sie nur konnten. Wenn man sich vorstellt, wie sie in ihrem Dorf empfangen wurden … sie waren bestraft genug. Außerdem ist es sicherlich kein Spaß, stundenlang barfuß bis zum Hals durch Büffelgras zu laufen.

Hitzluapitzli und die anderen zogen ins Dorf zurück. Es war ein toller Empfang, besonders für Hitzluapitzli, der an diesem Tage gegen Abend, nachdem er ausgeschlafen hatte, am Rat der Krieger teilnehmen durfte. Er musste die ganze Geschichte noch einmal erzählen. Als er an die Stelle kam, wo die feindlichen Krieger nackend durch das Gras rannten, lachten alle, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Ja, so etwas kommt dabei heraus, wenn die Großen einmal auf den Rat der Kleinen hören. Wenn es auch viel zu lachen gegeben hatte, mancher Krieger ging heute nachdenklich nach Hause.

Hitzluapitzli aber ging zu seinen Freunden, die schon ungeduldig auf ihn warteten. Ihnen musste er die ganze Geschichte noch einmal erzählen. Als er fertig war, sagte einer: „Kein Grund zum Angeben, jeder von uns hätte das gekonnt“. Hitzluapitzli sagte nichts mehr, er war zu müde, um sich heute noch zu prügeln.


Dr. Rainer Sandweg

Die Hitzluapitzli-Geschichten sind vor vielen Jahren entstanden, als meine Tochter Babette 7 und mein Sohn Florian 5 Jahre alt waren. Ich war damals schon Nervenarzt und nahm in Berlin an einer Ausbildung zum Psychoanalytiker teil. Die Kinder sind schon lange erwachsen, haben selbst eine Familie und gehen ihren Berufen nach. Ich selbst bin als Arzt und Psychotherapeut in eigener Praxis tätig.


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Hitzluapitzli

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Neuer Reineke Fuchs Kapitel 1-4

Eingelesen von Matthias Girbig

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