Briefe aus Ghana Teil 2

Catharina-E. Comberg // Dezember 2022

Ein Projekt mit großer Wirkung im kleinen Dorf

Vor dem Rehazentrum mit Waisenschule, einer Werkstatt, Fitnessstudio und Büros (© Foto: Catharina-E. Comberg)

Catharina-E. Comberg nimmt uns mit nach Afrika und berichtet ein Jahr lang von ihrem Freiwilligendienst in Ghana. Was bisher geschah können Sie in Teil 1 der Seume JOURNAL Miniserie lesen.

Meine Arbeit hat begonnen. Seit September werde ich im „Community Rehabilitation Project“ eingesetzt, was sich mit „Rehabilitationsprojekt in der Gemeinschaft“ übersetzen lässt. Hinter dem Begriff verbirgt sich eine Waisenschule, eine Werkstatt, ein Fitnessstudio, eine Praxis und mehrere Büros unter einem Dach. Diese Kombination mag sehr merkwürdig erscheinen, aber ihr werdet feststellen, dass die verschiedenen Institutionen sogar nur als Gesamtheit eine Wirkung erzielen können. Denn so unterschiedlich die Einrichtungen des CRP sind, so umfangreich ist auch die Aufgabe der Rehabilitation. Besonders vielseitig gestaltetet sich deshalb auch meine Arbeit. Ein spannenderes Projekt hätte ich mir nicht wünschen können.

Dem Titel „CRP“ entsprechend dreht sich hier alles um Rehabilitation. Diese ist etwas komplexer, als ich zunächst dachte. Die Kinder, die hier behandelt werden, sind in der Regel unheilbar krank. Deshalb geht es im CRP nicht um gänzliche Heilung, sondern darum, die bestehende Situation eines Menschen im ganzen maximal zu verbessern. Wenn schon, denn schon. Entscheidend sind dabei drei Dinge. Erstens möchte man die Lebensqualität eines Menschen maximieren. Zu seinem Wohlbefinden gehört das mögliche Maß an Gesundheit genau so, wie die Eingliederung in ein soziales Umfeld. Zweitens soll eine Person im besten Fall persönliche Selbstständigkeit und Unabhängigkeit erreichen. Damit geht auch ein Einstieg in das Arbeitsleben einher. Das dritte Ziel ist Funktionalität. Durch das Trainieren der physischen und psychischen Fähigkeiten soll ein Mensch fit werden, um im Alltag zurechtzukommen. Es ist also nicht damit getan, einem Querschnittsgelähmten einen Rollstuhl zu besorgen. Die Aufgabe des CRP ist ein Rundumpaket, zu dem zum Beispiel auch ein Platz in einer geeigneten Schule und physiotherapeutisches Training gehören. Daher braucht es auch unterschiedlichste Abteilungen wie Physiotherapie, Psychologie, Sozialarbeit, orthopädische Werkstatt und Waisenschule.

Die Waisenschule am CRP © (Foto: Catharina-E. Comberg)

Das CRP hat mit alldem eine gewaltige Aufgabe. Vor allem deshalb, weil das Zentrum in Duakwa die einzige derartige Einrichtung weit und breit ist und großer Bedarf für die Unterstützung behinderter Kinder herrscht. Hier ist nämlich der Glaube weit verbreitet, dass ein behindertes Kind Gottes Strafe für die Sünden der Mutter oder der Familie ist. Dass sich meine Mutter mit ihrer Rasselbande aus mir und meinen beiden Schwestern manchmal gestraft vorkam, kann ich mir gut vorstellen. Dass sich deshalb aber mein Vater von ihr scheiden lässt, sie nicht mehr in die Kirche kommen darf und kein Familienmitglied mehr ein Wort mit ihr wechselt, kann ich mir dagegen beim besten Willen nicht vorstellen. In Ghana sieht die Sache etwas anders aus, denn genau das beschriebene Szenario ist hier Realität. Und damit nicht genug. Da in Ghana dem Mann als Familienoberhaupt die Rolle des Versorgers zukommt, steht die Frau nach der Scheidung vor gewaltigen finanziellen Herausforderungen (Jede Art der Ehe, die von der heterosexuellen Norm abweicht, ist in Ghana strafbar und kommt daher offiziell nicht vor. Daher spreche ich nur von einer Familie aus Mutter, Vater und Kindern). Ihre eigene Erwerbstätigkeit muss die Mutter möglicherweise aufgeben, da ein behindertes Kind besonders intensiver Pflege bedarf. Außerdem gibt es in Ghana keine Krankenkasse, die Operationen, Medikamente, Therapie oder Hilfsmittel bezahlt, sofern diese überhaupt verfügbar sind. Diese enormen Kosten müssen also von den Betroffenen selbst übernommen werden. Es fehlt einerseits an Förderschulen, medizinischer Versorgung und finanziellen Mitteln. Andererseits ist die Akzeptanz und das Verständnis für Behinderung in Ghana noch sehr gering. Angesichts dieser scheinbar aussichtslosen Situation, mit der sich die Mutter eines eingeschränkten Kindes in Ghana konfrontiert sieht, führen Angst und Ratlosigkeit manchmal zu Verzweiflungstaten. Manche Kinder wachsen versteckt in einem Zimmer auf, ohne dieses je bei Tageslicht zu verlassen. Es kommt sogar vor, dass Kindern ein Getränk verabreicht wird, von dem sie friedlich einschlafen und nicht mehr aufwachen. Ich möchte hier aber keine Schauermärchen verbreiten. Stattdessen hoffe ich, dass anschaulich geworden ist, wie essentiell wichtig die Arbeit der Heilsarmee durch das CRP ist. Eltern bekommen hier nicht nur Beratung und materielle Unterstützung, sondern auch eine Perspektive und Zuversicht in ihrer Hoffnungslosigkeit. Im kleinen Duakwa bewirkt das Zentrum Großes.

Soweit so gut, aber was mache ich jetzt hier? Nacheinander verbringe ich in jeder Institution des CRP einige Wochen. Das macht meinen Freiwilligendienst besonders abwechslungsreich. Bei einer so vielfältigen Tätigkeit bin ich ständig gefordert und sammle breit gefächerte Eindrücke. Da ich ein sehr neugieriger Mensch bin, der gerne ständig ausprobiert, ist diese Situation also optimal für mich. Auch wenn ich mich mit Ausprobieren vielleicht lieber etwas zurückhalten sollte. Experimentierfreudigkeit wird im Krankenhaus leider nicht so wertgeschätzt.

Als erstes wurde ich bei den Zuständigen für Sozialarbeit eingesetzt. Diese Abteilung kümmert sich um die familiären und emotionalen Herausforderungen der Eltern eines behinderten Kindes und überwacht den Bildungsweg eines Kindes bis hin zur Erwerbstätigkeit. Außerdem werden regelmäßig Veranstaltungen in Kirchengemeinden, Schulen und Versammlungsräumen organisiert, bei denen über Entstehung und Behandlung von Behinderung aufgeklärt wird. So soll ein gesellschaftliches Bewusstsein und Verständnis für Andersartigkeit geschaffen werden. Es folgen einige meiner Einblicke in die Sozialarbeit des CRP.

Vortrag über Behinderung an der Christ the King High School in Agona Swedru (Foto: Catharina-E. Comberg)

Zukunftschancen

Patrick hat er sich beim Fußballspielen einen Hüftknochen gebrochen (Foto: Catharina-E. Comberg)

Das ist Patrick. Er ist 12 Jahre alt und besucht die sechste Klasse in einer Schule in Nsaba, der Hauptstadt unseres Distrikts. Patricks Mutter ist verstorben und sein Vater hat die Familie verlassen. Deshalb wohnt der Junge in ärmlichen Verhältnissen bei seiner Großmutter. Vor zwei Jahren hat er sich beim Fußballspielen einen Hüftknochen gebrochen. Die Verletzung blieb aus finanzieller Not unbehandelt und die Knochen wuchsen schief wieder zusammen. Seitdem humpelt Patrick stark durch die Fehlstellung seines rechten Beines. Jede Bewegung bereitet ihm Schmerzen und das Fußballspielen musste er aufgeben.

Doch Patricks Lehrerin hat kürzlich das CRP über den Fall informiert. Eine Sozialarbeiterin und ich besuchten den Schüler daraufhin zu Hause. Schnell stellte sich heraus, dass der Junge eine medizinische Behandlung braucht. Doch an dieser Stelle hätte der Fall auch schon abgeschlossen werden können. Das CRP hat nämlich nicht die finanziellen Mittel, um eine Behandlung zu bezahlen.Transport und Eingriffe müssen von den Patienten selbst gezahlt werden. Die Ersparnisse der Großmutter reichen nicht einmal für eine Busfahrt zur Klinik aus. Frustrierend, aber wahr. Doch wieder hilft Patricks Lehrerin. Sie erklärt sich bereit, für die notwendige Röntgenuntersuchung zu bezahlen. Der erste Schritt ist geschafft. Aber dabei wird klar, dass Patrick eine Hüftoperation braucht. Woher das Geld für diesen Eingriff kommen soll und ob Patrick je wieder Fußball spielen wird, ist noch unklar.

Gifty (Foto: Catharina-E. Comberg)

Hier seht ihr Gifty. Heute ist sie 29 Jahre alt und ausgebildete Fachfrau für Computersoftware und Datenverarbeitung. Aber bis hierher und zu ihrem Diplom war es ein weiter Weg. Als kleines Kind wurde sie mit deformierten Füßen zur Heilsarmee gebracht. Im geeigneten Alter operierte man Giftys Fehlstellung beidseitig und korrigierte sie durch orthopädische Schuhe und Schienen so weit, dass Gifty als Schulkind alleine laufen konnte. Es ging aufwärts für sie und die gesundheitlichen Schwierigkeiten schienen überwunden. Doch Gifty war keine Erholung vergönnt. Der Sturz von einer Treppe bescherte ihr zwei gebrochene Oberschenkelknochen. Es folgte jahrelang eine Operation nach der anderen, auch, weil implantierte Metallschienen ständig Komplikationen verursachten. Heute sind ihre Beine dauerhaft gebogen. Gifty läuft im Haus auf Händen und muss außerhalb in einem Rollstuhl geschoben werden. Doch mit dem hart erarbeiteten Geld, dass Giftys Eltern mit der Landwirtschaft verdienten, ermöglichten sie Gifty als eines von sechs Kindern einen hochwertigen Bildungsabschluss. Nach einem langen emotionalen Kampf hat Gifty es zur Informatikerin gebracht. Nun arbeitet sie an der Verwirklichung ihrer Zukunftsträume: ihr eigenes Geschäft und eine Familie mit eigenen Kindern.

Thoephillus (Foto: Catharina-E. Comberg)

Darf ich vorstellen: Thoephillus. Der 16-Jährige wurde mit Zerebralparese geboren. Seine Bewegungsstörungen, Muskelsteife und seine schwer verständliche Aussprache gehören für ihn und seine Mutter zum Alltag. Der Vater hat die Familie nach der Geburt seines Sohnes verlassen. Zwar kann der Teenager sich nur auf Händen fortbewegen; durch den von der Heilsarmee angeschafften Rollstuhl und viele Jahre der Physiotherapie im CRP wurde Thoephillus aber fit für die Schule gemacht. Nach zwei Jahren als Schüler der Waisen- und Bedürftigenschule der Heilsarmee hat er dieses Jahr den Sprung in die Regelschule geschafft. Die teuren Schulmaterialien stellt weiterhin das CRP zur Verfügung, was aufgrund eines Sponsorings einer deutschen Hilfsorganisation möglich ist. Der Mut, den Jungen nicht mehr an einer speziellen Schule für Behinderte anzumelden, hat sich ausgezahlt. Thoephillus hat akademischen Erfolg in seiner neuen Umgebung und beweist gerade, wie intelligent er ist. Seine Entwicklung ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass das große Potential in körperlich oder geistig beeinträchtigten Kindern häufig übersehen wird. Wenn man ihnen die Chance und die Unterstützung gibt, die sie brauchen, wird man überrascht, was in ihnen steckt.

Denkt man diesen Gedanken zu Ende, kann man zu einem erstaunlichen Schluss gelangen. Behinderte sind viel eher Menschen, die von der Gesellschaft behindert werden. Denn durch physische Hürden, finanzielle Zusatzbelastung und vorschnelle Urteile ihrer Mitmenschen bleibt Behinderten in Ghana meistens der Zugang zu Inklusion, Bildung und Erwerbstätigkeit verwehrt. Solchen übersehenen Menschen Zukunftschancen zu geben, gleichwertig zu allen anderen ihr Potential zu entfalten und gesehen zu werden – genau das ist das Ziel des CRP. An dieser Vision mitwirken zu dürfen, sehe ich als großartige Gelegenheit und Geschenk. Zeugin so vieler Einzelschicksale zu werden und Einblicke in die Lebensrealität von Familien mit behinderten Kindern in Ghana zu bekommen, ist für mich etwas ganz besonderes.

Wieder zu Hause

Wie ihr merkt, bin ich inzwischen mit Leib und Seele in Ghana angekommen und von meinem Projekt durch und durch begeistert. Das, was man so schön „Kulturschock“ nennt, ist überwunden. Als ich allerdings meine ersten Tage hier verbrachte und absolut nichts war, wie ich es aus Deutschland kannte, war ich erst einmal überfordert. Sich an so viele Umstellungen gleichzeitig zu gewöhnen, war definitiv eine Herausforderung. Die Anpassung passierte mit der Zeit aber von ganz alleine. Reisen im Trotro (diese klapprigen Kleinbusse sind in Ghana das Hauptverkehrsmittel) mit einer Ziege als Sitznachbar. Morgens um 5:00 Uhr kalt duschen mit einem Eimer. Essen ganz ohne Besteck. Zur Begrüßung Schnipsen... Diese Verhaltensweisen habe ich mir schon nach wenigen Wochen einverleibt. Entscheidender für mich war aber eine ganz andere Entwicklung. Freundschaften und Beziehungen aufzubauen braucht mehr Zeit. Gerade solche Kontakte zu ghanaischen Freund*Innen und der Gastfamilie sind es aber, die für mich eine Bindung zu meinem neuen Umfeld ausmachen. Noch vor drei Monaten war ich selbst meine beste Gesellschaft. Da die Umgangssprache in Duakwa Twi ist, habe ich von den mich umgebenden Gesprächen rein gar nichts verstanden und als einzige Hellhäutige weit und breit bin ich aufgefallen wie ein bunter Hund. Wo immer ich mich aufhielt, erregte ich großes Aufsehen. So viel unverdiente Aufmerksamkeit und ständige Hände in meinen Haaren und auf meiner Haut markierten mich zweifelsfrei als Fremdkörper. Doch es hat sich einiges getan. Die Grußworte, die mir auf meinen täglichen Wegen durch Duakwa von den immer gleichen, bekannten Gesichtern zugeworfen werden, weiß ich inzwischen in Twi zu erwidern. Man hat sich an meinen Anblick gewöhnt und im Gesprächsfetzen-in-Twi-Kombinieren werde ich immer besser. Außerdem beschränkt sich die Zeit, die ich alleine verbringe, zum jetzigen Zeitpunkt rein auf die Schlafenszeit und Minuten im Badezimmer. Herzliche Menschen sind auf mich zugekommen und überall haben sich Gelegenheiten aufgetan, etwas zu unternehmen. Ich habe Anschluss an den Kirchenchor und eine Band gefunden, verbringe Spieleabende mit Dame und Monopoly und streife mit Freunden durch das Dorf. Der Gastvater nimmt mich morgens auf seinem Mofa mit zur Arbeit, die Gastmutter führt mich in die ghanaische Küche ein, Gastschwester Rahel teilt mit mir ihre heiß geliebten Kekse und gemeinsam feuern wir die ghanaischen „Black Stars“ bei der WM an. Es sind die vertrauten Gespräche und bekannten Gesichter, die mir Sicherheit geben und auf die ich mich jeden Tag freue. Viele Menschen gehören inzwischen zu meinem Alltag. Dadurch habe ich jetzt auch das Gefühl, hier angekommen zu sein. Ich bin in einen Freundeskreis, die Gemeinde und meine neue Familie integriert. Anders gesagt: Ich bin wieder zu Hause.

Weiterlesen Briefe aus Ghana Teil 3

Catharina-E. Comberg

Catharina-E. Comberg, geboren 2004 in Saarbrücken, besuchte bis 2022 das Gymnasium Marienschule Saarbrücken und erwarb dort abschließend das Abitur. Nachdem sie an mehreren Schüleraustauschprogrammen nach Frankreich teilnahm und zwei Monate in Südafrika die Schule besuchte, verbringt sie seit September 2022 einen zwölfmonatigen Freiwilligendienst in Ghana. Ihre „Briefe aus Ghana“ berichten von ihren kulturellen, kulinarischen und gesellschaftlichen Erfahrungen sowie ihrer Arbeit in einem medizinischen Zentrum der Heilsarmee.

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