Monte Verità

Claudia Spurk // August 2023

Spinner und Künstler? Veganer und Nackte? Sinnsuchende und Schmarotzer? Sex and Drugs? Naturmenschen und Zauberweiber?

Rudolf von Laban mit Tanztruppe, 1914 (© Foto: gemeinfrei, wikipedia.org)

Es ist das Jahr 1900. Eine kleine Gruppe macht sich auf den Weg zu den oberitalienischen Seen. Was die sehr unterschiedlichen Frauen und Männer zusammenführt, und verbindet war das Ziel „ein neues Leben, in dem die Herkunft wie ausradiert war und die Zukunft Gestalt annahm“. Sie hatten beschlossen, ein eigenes Natur-Sanatorium sowie eine „vegetabile Cooperative“ zu gründen und suchen nun ein geeignetes Grundstück im Süden. Es ist Anfang Oktober, aber sie haben alle einschnürende Kleidung abgelegt, gehen barfuß oder höchstens in Sandalen. Merkwürdig?

Ida Hofmann, Lotte Hattemer, Henri Oedenkoven im Winter 1902

Das Fin de Siècle, ab ca. 1880, war eine Zeit geprägt von großen Umbrüchen: Die Bevölkerung war konfrontiert mit einem riesigen technischen Fortschritt, einer enormen Industrialisierung verknüpft mit Landflucht und Verstädterung, wirtschaftlicher Globalisierung, einem kräftiges Wirtschaftswachstum und der Beschleunigung des Lebens durch die neuen Transportmittel. Deutschland wurde vom Agrar- zum Industriestaat. Das Bürgertum sah sich zusätzlich bedroht durch die Arbeiterklasse, die Rechte einforderte und dem bestimmenden Industriekapital. Dies führte dazu, dass das Leben zunehmend als „nervös“, krankmachend und die Arbeit als entfremdet erlebt wurde.

Das Gefühl, die Gesellschaft zwinge die Menschen zu Lebensbedingungen die nicht ihrer Natur entsprächen, verbreitete sich besonders im (Bildungs-)Bürgertum rasch. Als Konsequenz suchte man Alternativen, die der „wahren Natur“ des Menschen mehr entsprechen sollten. Dazu gehörte es, sich vegetarisch zu ernähren, alles Einschnürende abzulegen, der Natur wieder nahezukommen und mit und in ihr zu leben. Die Tradition der Körperfeindlichkeit und die veränderten Arbeitsbedingungen, führten zum Gefühl, auch körperlich aus dem Gleichgewicht zu sein. Sport, Bewegung, Nacktheit sollten Abhilfe schaffen. Es entstand die sog. Lebensreformbewegung, deren Ideen auch die kleine Gruppe auf Suche nach einem Platz für ihr alternatives Leben beeinflussten.

Deren Gründer, Ida Hofmann (Pianistin und Feministin), der Antwerpener Industriellensohn Henri Oedenkoven und der (ehemalige Offizier) Karl Gräser lernen sich in einem naturheilkundlichen Sanatorium kennen. Die naturheilkundliche Therapie zu dieser Zeit konzentriert sich vor allem auf Anwendung von Luft, Licht, Wärme, Wasser, Diät und Phasen der Ruhe und Bewegung. Naturheilkunde wird die Medizin der Stunde. Ziel ist es, die „Lebenskraft des Menschen“ anzuregen. Solche Anstalten entstanden an vielen Orten in Europa, ihre Leiter waren meistens medizinische Autodidakten. Behandelt wurde vor allem die im Bürgertum grassierende sog. Neurasthenie (auch Nervosität/Erschöpfung).

Zur Kerntruppe gehören noch: Jenny Hofmann (Sängerin), Lotte Hattemer (Lehrerin) und Gusto Gräser (Künstler und Kriegsdienstverweigerer). Sie stoßen auf einen Hügel beim armen Fischerdorf Ascona, ehemaliges Rebengebiet, mittlerweile sich selbst überlassen. Dort kaufen sie Gelände mit Blick auf den Lago Maggiore und beginnen mit den ersten „Licht-Luft-Hütten“, karg möblierten Unterkünften, die aber Licht und Luft hereinlassen. Der Ort soll Monte Verità heißen, ein Name, der später auf den ganzen Hügel übertragen wird. Das Lebensreform-Projekt kann beginnen!

© Fondazione Monte Verità, Fondo Harald Szeemann
Hauptgebäude (© Fondazione Monte Verità, Fondo Harald Szeemann)

Ziel ist es, ein Leben zu ermöglichen, das zu den „wahren menschlichen Bedürfnissen“ passt. Der enge Kontakt zur Natur ist Teil der Therapie. Grundlagen sind eine strenge vegetarische/vegane Ernährung, eigener Anbau der Nahrung, daneben die Bedeutung von Sonne und Luft (Licht-Luft-Hütten, ausgedehnte Sonnenbäder, Freikörperkultur, Gymnastik. Die Kleidung soll alle gesellschaftlichen Schranken und Einengungen aufheben: Ohne Korsett in luftigen Kleidern die Frauen, in halblangen Hosen, weiten Hemden, mit langen Haaren und Stirnbändern die Männer, alle barfuß oder in Sandalen. Damit entsteht auch ein neues Schönheitsideal: schlank und gebräunt, leistungsfähig und sportlich soll der neue Mensch sein.

Auch eine andere Rolle der Frau wird diskutiert, angetrieben von Ida Hofmann: die Fesseln der traditionellen Rolle sollen gesprengt und ihr dieselbe Freiheit und die gleichen Rechte wie dem Mann zugestanden werden; statt bürgerlicher Ehe „freie Liebe“ oder „vegetarische“ bzw. Neigungs-Ehe.

Bei der Umsetzung zeigt sich jedoch schnell, dass die Träume sehr unterschiedlich aussehen. Zwei Richtungen prallen aufeinander:

Ein Teil – vor allem Ida Hofmann und Henri Oedenkoven - wollen ein naturheilkundliches Sanatorium für Körper, Geist und Seele gründen, das neben der Licht-Luft-Therapie und vegetarischer Ernährung weitere Behandlungen aus der Naturheilkunde anbieten soll. Ihnen schwebt eine Anstalt vor, deren Gewinne eine sich weiter vergrößernde Lebensgemeinschaft finanzieren soll, die sich selbst ohne Ausbeutung von Mensch und Natur versorgen kann. Die Kurgäste sollen "frei von allerlei lästiger Kleidung im Grase ruhen, laufen, turnen, spielen, Garten- und andere Arbeiten verrichten." (Prospekt, 1904), das Maß soll jede(r) selbst bestimmen. Letztendlich war das Sanatorium ein lebensreformerisches, eher kommerzielles Projekt, das sich finanziell tragen sollte, dies aber bis zum Schluss nicht konnte.

Den anderen – Karl Gräser (ehemaliger Offizier), seinem Bruder Gusto, Jenny Hofmann - ist das zu wenig: Ihnen geht es darum sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Dafür sollen die eigenen Ansprüche auf ein Minimum herabgeschraubt und Leben und Arbeit zumindest auf ein vorindustrielles Niveau zurückgeführt werden. Ihnen schwebt eine Aussteiger-Kolonie ohne Regeln vor, die sich autark von Feld- und Gartenarbeit ernährt und alles, was man zum Leben braucht möglichst selbst herstellt ohne jede Technik. Für sie bedeutet jeglicher Besitz, besonders Geld, Abhängigkeit und Zwang.

Die Vertreterinnen und Vertreter beider Positionen stehen sich unversöhnlich gegenüber, die Gruppe zerbricht.

Karl Gräser in seinem Naturstuhl
Ida Hofmann, Lotte Hattemer, Henri Oedenkoven im Winter 1902

Jenny Hofmann und Karl Gräser lassen sich in der Nähe nieder, beziehen einen alten, verfallenen Stall, versuchen möglichst autark zu leben. Es entwickelt sich eine Landkommune und Künstlerkolonie ohne Organisation. Viele Militärdienstverweigerer flüchten hierhin.

Gusto – radikaler Kriegsdienstverweigerer – ist noch rigoroser: Er lebt zeitweise in einer Felsspalte, wird zum Wanderprediger und Guru (u.a. für Hermann Hesse), führt ein unstetes Leben und lebt von dem, was man ihm gibt. Lotte Hattemer zieht sich gänzlich zurück, lebt alleine im Wald, verschenkt alles, wendet sich dem Mystizismus zu und erkrankt an Magersucht.

Der Ruf des Monte Verità aber verbreitet sich rasch, sicher auch angefeuert durch die Geschichten über die vielen Nackten, das Versprechen der „freien Liebe“, Berichte von orgiastischen Festen. Auch die Bewohner nutzten dieses Interesse, in dem sie Fotos und Postkarten mit entsprechenden Sujets verkaufen.

© Fondazione Monte Verità, Fondo Harald Szeemann

Beäugt von den Bauern, Fischern und der Polizei wird Ascona und der Monte zum Anziehungspunkt einer bunten Truppe: Es treffen sich Lebensreformer, Sinn-Sucher und -Sucherinnen, Theosophinnen und Theosophen, Esoteriker, Buddhistinnen und Yoga-Anhänger, Kommunisten, Sozialdemokraten, Kriegsdienstverweigerer, Schriftsteller, Dichterinnen, Malerinnen und Maler, politische Emigranten und Schnorrer. Auch Frauen in schwierigen Verhältnissen finden einen Platz, so etwa die Schauspielerin Katharina Simon mit ihren beiden unehelichen Kindern. Um zu überleben, stellte sie ganz neue Puppen her. Sie wurde später als die Puppenmutter Käthe Kruse berühmt.

Es gibt auch eine aktive und international vernetzte Gruppe von Anarchisten, die in der Region einen Anlaufpunkt hat. Bei der Unterstützung anarchistischer Zeitschriften, direkter Aktionen und der Finanzierung des eigenen Lebensunterhalts hilft der äußerst lukrative Schmuggel von Saccharin (in der Schweiz hergestellt und frei verkauft, in vielen europäischen Ländern nur teuer in der Apotheke zu kaufen) …

Als Gegenbewegung zum klassischen Ballett entwickelt sich der sog. der Ausdruckstanz, in dem die Darstellung des eigenen Empfindens im Zentrum steht. Während des 1. Weltkrieges steuert Rudolf von Laban mit seiner Tanz-Akademie auf dem Monte neue und starke Impulse bei, zieht zahlreiche Tänzerinnen an (z.B. Mary Wigman) und prägt nachfolgende Generationen.

Mary Wigmann

Selbsternannte Gurus erscheinen mit Esoterik und Selbstvermarktungspostkarten im Gepäck, und schließlich sind auch die Drogen da: die von Otto Gross praktizierte Mischung aus Psychoanalyse, Sex und Drogen führt zum Tod einiger Frauen.

Spinner und Künstler? Veganer und Nackte? Sinnsuchende und Schmarotzer? Sex and Drugs? Naturmenschen und Zauberweiber?

Der Monte Verità war von allem etwas und noch viel mehr. „Die“ Ideologie des Monte Verità hat es nie gegeben: Es gab „600 Viten, 600 Paradiesvorstellungen“ (Szeemann, Ausstellung Monte Verità), eine Ansammlung von Individualisten, ein Konglomerat aus ideologischen Strömungen der damaligen Zeit, die im Laufe von ca. 20 Jahren aufgesogen wurden und letztendlich auch die Art und Weise der bürgerlichen Gesellschaft zu leben beeinflussten. Denn radikale Aussteiger, die mit ihrem früheren Leben gänzlich abgeschlossen und hier von der eigenen, körperlichen Arbeit lebten, waren immer in der Minderheit. Die meisten waren „Aussteiger auf Zeit“: Sie suchten für eine gewisse Zeit das andere Leben ohne bürgerliche Zwänge und nah an der Natur, erholten sich, suchten Orientierung, Selbstverwirklichung, sexuelle Freizügigkeit, Befreiung von Süchten, Anregungen durch Gleichgesinnte. Sie kehrten aber in ihr Leben zurück, wenn auch häufig verändert.

Zur weiteren Bekanntheit des Monte Verità trug sicher auch bei, dass er im warmen Süden und in einer wunderschönen Landschaft liegt, mit dem Bau des Gotthardtunnels und den neuen Transportmöglichkeiten gut angebunden an die großen Städte. Neben dem eigentlichen Sanatorium (36 Plätze) und den Communen gab es viele Möglichkeiten unterzukommen, je nach Geldbeutel: verlassene Ruinen, Pensionen, Gleichgesinnte oder man baute sich ein eigenes Haus. Die starke Außenwirkung wurde unterstützt durch die Protagonisten, die ein großes Talent zur Selbstdarstellung und Inszenierung besaßen, auch die Anzahl der Prominenten, die vorbeikamen, mag eine Rolle gespielt haben. Hier nur einige wenige: Mary Wigmann, Erich Mühsam, Käthe Kruse, Hermann Hesse, Mia Hesse, Oskar Maria Graf, Max Weber, Marianne von Werefkin, Alexej von Jawlensky, D.H. Lawrence, Sophie Taeuber, Hans Arp, El Lissitzky, Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, Ernst Bloch, Karl Kautsky, August Bebel, Franziska von Reventlow, Martin Buber, Else Lasker-Schüler, Erich Maria Remarque.

Nach 20 Jahren ändert sich das Bild grundlegend: Die äußerst strikten Ernährungsvorschriften und vor allem die ungewohnte und schwere Arbeit auf den kargen Böden schrecken viele ab, ebenso wie das karge Leben. Auch führt der 1. Weltkrieges dazu, dass weniger Menschen kommen. Das Sanatorium, dass sich nie selbst getragen hatte, ist pleite. Nach einem Zwischenspiel übernimmt schließlich der Bankier und Kunstsammler Eduard von der Heydt den Monte Verità und lässt ein Hotel im Bauhaus-Stil für eine wohlhabende Klientel bauen.

Von heute aus gesehen fällt auf, dass der Monte Verità nicht nur sehr typisch für die damalige Zeit war. Ähnliche Strömungen finden sich in den 60er Jahren: New Age, Selbstverwirklichung, Kommunen, Anarchie, Vegetarismus, freie Liebe, Hippies, Sex and Drugs, die Mode – und Hermann Hesse kam wieder groß in Mode.

Und heute?

Auch heute treiben uns viele der Themen um wie z. B. Be-/Entschleunigung, Burnout (Nervosität, Neurasthenie), Globalisierung, Work-Life-Balance, Leben in und mit der Natur, Veganismus, Esoterik, alternative Medizin, Sinnsuche, Körperideal, Emanzipation, Suche nach Sinn und Werten, Beschäftigung mit asiatischen Gedanken und Praktiken etc.

Was ist aus der Gründergeneration geworden?

Nur wenig ist bekannt:1920 gingen Ida Hofmann und Henri Oedenkoven mit seiner Frau und Kindern erst nach Spanien, dann nach Brasilien, um dort eine neue Kolonie zu errichten. Erfolglos. Hofmann starb nach einigen beruflichen Neuanfängen 1926, Oedenkoven 1935. Lotte Hattemer „ist mit sich und der Welt zerfallen, gänzlich verkommen“ und „dem sicheren Hungertod nahe“ (Käthe Kruse). Sie starb 1906 mit 29 Jahren unter mysteriösen Umständen an einer Mischung aus Kokain und Opium.
Karl und Jenny Gräser sollen zunehmend an neurologischen und psychischen Störungen gelitten haben. Es wird spekuliert, dass dies Anzeichen der progressiven Paralyse, dem Endstadium einer Syphilis-Erkrankung gewesen seien. Karl starb 1920 in Kassel, Jenny wenige Jahre später. Gusto Gräser lebte als Wanderdichter, Naturheiler, Tänzer und Einsiedler, überlebt mehrere Gefängnisaufenthalte und das KZ. Er stirbt 1958.

Und was ist aus dem Monte Verità geworden?

Eduard von der Heydt vermachte das Gelände in den 1950er Jahren dem Kanton Tessin, der es Ende der 1980er Jahre in Zusammenarbeit mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich in ein Seminarzentrum umwandelte.

Tessin Landschaft, Schweiz

Aus: OPUS Kulturmagazin für das Saarland und die Großregion Rheinland-Pfalz, Rhein-Main und Rhein-Neckar. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers der Kulturzeitschrift OPUS, Dr. Kurt Bohr.


Claudia Spurk

Claudia Spurk studierte an der Mannheimer Universität Psychologie, Pädagogik und Soziologie und erhielt dort das Diplom in Psychologie. Sie arbeitete mehrere Jahrzehnte als selbständige Trainerin, Coach und Organisationsentwicklerin in Unternehmen und Organisationen der Branchen Automobil, Stahl, Fernsehen u.a.. Seit einigen Jahren schreibt sie Artikel über Frauen mit ungewöhnlichen Biografien und weitere gesellschaftliche Themen und engagiert sich am Verlag J. G. Seume.

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