Ein Fest ohne Fahne – ein Chor auf den Spuren des D-Day in der Normandie

Dr. Rainer Schwamborn // Oktober 2023

D-Day Landungsstrände, Normandie (© Foto: Claudia Spurk)

Natürlich kannte ich sie, die Landungsstrände. Schon als Jugendlicher hatte ich von ihnen gehört, meine älteren Schwestern hatten den Film „Der längste Tag“ mit John Wayne und Robert Mitchum gesehen und zu Hause aufgeregt davon erzählt, offensichtlich erschreckt. Auch D-Day war mir irgendwie ein Begriff. Aber das Datum 6. Juni 1944 sagte mir nichts, als Catherine, meine spätere Frau mich Anfang der 70er Jahre in ihre Familie in Caen einführte und wir auch nach Asnelles fuhren.

Ich erinnere mich an sehr kühles Wetter im Frühsommer, mit Nieselregen und schlechter Sicht, die die harten Strukturen der riesigen Blöcke weicher machten. Bei Ebbe konnten wir einige der tief in den Sand gesunkenen, in einem riesigen Halbkreis von 3 km Durchmesser angeordneten Wellenbrecher, von der Höhe eines Einfamilienhauses und der Länge eines halben Fußballplatzes, fast anfassen. In ihrer Nähe wurde es deutlich dunkler und kälter. Wir haben die Soldatenfriedhöfe besucht, in der Nähe von Asnelles und später auch Colleville, den großen amerikanischen Friedhof in der Nähe von Port en Bessin. Die Bedeutung dieses Strandes war mir nicht bewusst geworden. Er war anders als andere Strände. Die Schlacht, die dort stattfand war furchtbar, aber nur so wie viele im 2. Weltkrieg. Sie war vernichtend für die deutschen Besatzer, die einen Angriff an dieser Stelle nicht vermutet hatten. Ich habe ihn inzwischen unzählige Male besucht. Unsere vier Kinder haben hier laufen und schwimmen gelernt. Und sie haben gelernt, dass es auch Strände ohne „Krieg“ gibt. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich seine bizarre Silhouette kaum verändert. Als ob sie sich ihrer Symbolik bewusst wären, trotzen die Betonklötze den anstürmenden Wellen. Viele von ihnen sind zerbrochen oder ganz verschwunden. Ein gutes Dutzend ist aber noch erhalten. Als beharrliche Erinnerung. Gegen jeden Schlussstrich. Alles was hier geschah, war die Voraussetzung dafür, dass meine ganze Generation und die folgenden in Frankreich, Deutschland und vielen anderen Ländern Europas in Demokratie und Freiheit aufwachsen konnte. Mit der Erkenntnis paart sich das Entsetzen darüber, was passiert wäre, wenn die hier gefallenen Soldaten umsonst gestorben wären. Die ganze Tragweite des 6. Juni wird wohl niemals erfasst werden können. Den Tod von 25.000 Soldaten begreifen? Ihn mit dem Leben in Freiheit von unzähligen jungen Europäern aufwiegen? Ich habe lange gebraucht, um nur ein wenig zu verstehen. Aber es gibt sie auch, die freundliche Seite dieses Strandes.

Immer wieder hatte ich meinem Chor „total vocal Saarbrücken“ nach der Rückkehr aus den Sommerferien von Asnelles, von dem großartigen kulturellen Angebot im Departement Calvados berichtet. Den vielen Konzerten von Chören aus der ganzen Welt, die in Abteien und romanischen Kirchen auftreten, dem großen Interesse, das Einheimische und Feriengäste dem entgegenbringen. Und ihnen vorgeschlagen dort hinzufahren, um unsere Lieder zu singen. Christian Nisse, Leiter einer kulturellen Organisation, die Konzerte im Bezirk „Bessin“ organisiert, hatte mir Unterstützung zugesichert, ebenso wie die Gemeinde Asnelles.

Nach Ende unserer beruflichen Tätigkeit verbringen wir mehr Zeit in der Normandie. Weil mir der Gesang fehlte, habe ich mich dem „Choralie du Bessin“ angeschlossen. Die Idee, „total vocal“ und „Choralie“ zusammenzubringen lag fast auf der Hand: Von der Musikalität her, vom Durchschnittsalter, von der Stimmung des Chores, von den Themen, die nach dem Singen angesprochen werden, von der Zugewandtheit der Sänger untereinander und vom gegenseitigen Interesse, sollte das zusammen gehen. Mit meinen französischen Freunden versammeln wir uns zum Singen in der „salle de fêtes“ in Arromanches, dem Nachbarort von Asnelles. Sie befindet sich dem „Musée du Débarquement“ direkt gegenüber. Auf der anderen Seite der Straße. Und dahinter liegt der bei Ebbe riesige, flache Strand. Mit dem anderen Ende des halbkreisförmigen, künstlichen Hafens, der in Asnelles beginnt. Auf dem Platz und der Deichpromenade vor dem Museum, in dem die Geschichte der Schlacht vom 6. Juni 1944 erklärt wird, wehen unzählige Fahnen aus vielen Ländern. Die deutsche ist nicht dabei. Es war klar, dass diese Reise eine besondere Note bekommen würde. Würde der Empfang so herzlich sein, wie ich ihn selbst immer in Frankreich erlebt hatte? Oder hatte die fehlende Fahne doch mehr zu bedeuten?

Mein Vorschlag für die Normandie fiel in eine Zeit, da der Chor dafür reif war. Das tolle Konzert mit Konstatin Wecker lag gerade hinter uns und erwartete eine Ergänzung. Die lange Pause der Coronazeit davor mit nur wenig Gesang, meistens alleine zu Hause und ohne jeden Bühnenkontakt, hatte spürbar die Stimmung der Sänger:innen gedrückt. Eine Fahrt an die normannische Küste mit einem anspruchsvollen Programm war offensichtlich willkommen. Als unser Chef, Martin Stark, Asnelles als Austragungsort des nächsten Konzerts offiziell ansagte, gab es nur wenig Bedenken. Martin Stark, der Chorleiter und Walter Maus, der erste Vorsitzende kamen Ende August 2022 nach Asnelles, um selbst einen Eindruck von den Örtlichkeiten zu bekommen und unser Konzert vorzubereiten. Wir besichtigten mit G.Pouchain, dem Kulturbeauftragten der Gemeinde die „Grange à Dîmes“, die Zehntscheune, das älteste profane Gebäude des Ortes, das von ihm und seiner „Association des amis de la Grange à Dîmes“ renoviert wurde und damit aus einem Tiefschlaf erweckt worden war. Die Gemeinde ist nicht reich und die Mitglieder der Unterstützergruppe auch nicht. Die Arbeiten sind noch in vollem Gange. Der herbe Charme dieser mittelalterlichen Scheune mit seiner beachtlichen Akustik überzeugte beide sehr rasch.

Ein zweites Konzert sollte dann in der romanischen Kirche in Creully stattfinden, wo uns die Gemeinde sehr freundlich einlud, im Rahmen einer Serie von Veranstaltungen am ersten Wochenende im September aufzutreten. Wir waren erfreut über den weit über Höflichkeit hinausgehenden, herzlichen Empfang in beiden Gemeinden. Es gelang ohne Mühe, unsere Begeisterung auf den Chor zu übertragen. Wir hatten nun ein ganzes Jahr Zeit zum Proben. Das Programm wurde mehrfach umgebaut, angepasst und verändert bis Martin zufrieden war. Die Reise sollte vier Tage dauern und am 31. August beginnen.

Konzertplakat. Choeuer total vocal de Sarrebruck

Schon auf der Fahrt mit dem Bus beginnen die Erinnerungen an die schwierige, kriegerische Beziehung zum Nachbarn, die in Schlagworten, Bildtafeln oder einfach nur Namen am Rand der Autobahn bereits kurz hinter der Grenze anmahnen. Spichern, Gravelotte, Verdun, Le Saillant de St Mihiel, Compiègne, Le Chemin des Dames, Valmy sind Ortsnamen von Schlachten oder von schwierigen Friedensverträgen und Waffenstillständen. Deutschland war eigentlich immer auf der falschen Seite. Auch bei wohlwollender Betrachtung bleibt dieser Eindruck. Die Erwartungen an unsere Lieder waren also sehr groß und uns manchmal ein wenig bang. Und an den Strand von Asnelles kamen nun, nach den Worten von Gérard Pouchain, dem Kulturbeauftragten von Asnelles und nur einen Tag später auch vom Bürgermeister Alain Scribe ausgesprochen, zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg eine deutsche Gruppe, der Chor „total vocal“. Sie wurden im Hotel „Les Tamaris“ untergebracht, so nah am Strand, wie nur denkbar. Und damit hart am Rand der Geschichte des 2. Weltkrieges. (Hier landete auch De Gaulle im Juni 1944.)

Die Zeit zwischen der Zusage beider Chöre und dem Konzerttermin Anfang September war sehr kurz und fiel in die Sommerferien. So fanden gemeinsame Proben nicht statt. Trotzdem gelang dieses Zusammenspiel erstaunlich gut. Wir einigten uns auf ein Lied, „Il Signore delle Cime“, das beide Chöre im Programm hatten und das nach kurzem Proben vor dem Konzert stand. Die Kommunikation gelang natürlich nicht reibungslos, aber deutlich besser als erwartet. Übersetzungen wurde weniger in Anspruch genommen, als ich vermutet hatte, weil viele der Saarländerinnen und Saarländer gute und sehr gute Französischkenntnisse haben. Teilweise sehr intensive Kontakte nach Deutschland, mit entsprechenden Kenntnissen der Sprache, gab es auch auf französischer Seite. Und jeder, der auch nur drei Worte der Partnersprache kannte, holte sie hervor und verzehnfachte innerhalb des kurzen Aufenthaltes seinen Wortschatz. Auch dafür gab es Gründe. Die Herzlichkeit des Empfangs durch Gérard Pouchain und dem Hotelpersonal am Tag der Ankunft und die freundliche, gar überschwängliche Begrüßung durch Alain Scribe vor dem Konzert am Tage danach hat uns sehr berührt. Die empathische, sehr individuelle Bewirtung mit den Köstlichkeiten der Normandie im „Les Tamaris“ hat alle Sinne geweckt. So dass der Drang zur Kommunikation wuchs, große Teile davon aber auch nonverbal gelangen. „La bise“ und eine kräftige Umarmung ersetzte Händeschütteln und gestotterte Sätze in einer fremden Sprache. Der Andrang der Zuhörer beim ersten Konzert war so groß, dass die vorbereiteten Sitzplätze erkennbar nicht reichen würden. Mit tatkräftiger Hilfe des Bürgermeisters wurden zusätzliche Stühle aus der nahen Kirche besorgt.

Die Chöre „total local“ und „Choralie du Bessin“ (© Foto: Peter Winterhoff-Spurk)

Das Konzert war ein großer Erfolg! Anschließend gab es zahlreiche Gespräche zwischen Menschen, die sich nie zuvor gesehen hatten. Wir hatten das Gefühl, in diesem freundlichen, kleinen Ort angekommen zu sein. Auch das Konzert am nächsten Tag in Creully war sehr gut besucht. Der künstlerische Eindruck vielleicht noch nachhaltiger. Die gegenseitigen Erwartungen an eine Begegnung, an diesem hoch befrachteten Ort, schienen sich auf sehr individueller Ebene erfüllt zu haben. Wir wurden eingeladen, wiederzukommen. „C’est à répéter“ sagte der Bürgermeister. Unsere überraschend großen Einnahmen – „du jamais vu“- wurden verteilt. Auch an die „Association de la Grange à Dîmes“. Auch einigen Sängern war beim Besuch in Arromanches die fehlende Fahne aufgefallen. Unsere Gastgeber haben mit ihrem warmherzigen Empfang deutlich gemacht, dass wir uns deshalb nicht mehr ausgeschlossen fühlen müssen und diese Tage zu einem Fest gemacht. Fehlende Fahnen hatten wir schon mehrfach mit Verve besungen. Vielleicht folgt „Choralie“ unserer Einladung im nächsten Jahr und wir werden nochmal nach den Fahnen in Arromanches schauen. Um zu sehen, ob die eine oder andere schon verschwunden ist…

Europaflagge

Wenn wir lernen, uns mit der europäischen Fahne hinreichend repräsentiert zu fühlen, werden vielleicht auch andere überflüssig. Und ganz Europa brauchte irgendwann nur noch eine. Die blaue, mit den Sternen.


Dr. Rainer Schwamborn

Dr. Rainer Schwamborn als viertes von sechs Kindern 1947 in Schwelm geboren, einer Kleinstadt am südlichen Rand des Ruhrgebiets. 1967 Beginn des Studiums der Medizin in Münster. Nach dem Physikum Wechsel für ein Semester an die Universidad Complutense in Madrid, aus Neugier und der Sprache wegen. 1972 Staatsexamen und anschließende Forschungstätigkeit an der Universität Münster, später klassische Ausbildung zum Internisten an Krankenhäusern im Münsterland, im Ruhrgebiet und in Madrid. Verheiratet mit Catherine Bioche aus der Normandie, Mutter der vier Kinder. 1984 Umzug zur Niederlassung nach Saarbrücken, in die Nähe der französischen Grenze. Ärztliche Tätigkeit als Internist in einer Gemeinschaftspraxis im unteren Malstatt, einem sozialen Brennpunkt, für mehr als 30 Jahre. Seit 2015 vielbeschäftigter Rentner.

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