Eine Gutenachtgeschichte: Wie die Ameise zu ihrem Namen kam

Uli Menz // Juni 2023

© Illustration Martin Petzold (†)

Siehst Du das kleine Tier da in der Mitte des Tisches? Du siehst nichts? Guck’ noch mal genau hin: Ja, der kleine Strich mit den zwei Punkten. Das ist eine Ameise. Willst Du wissen, warum sie so heißt? Dann kuschel Dich an mich und lass‘ Dir erzählen.

Bevor die Tiere aus dem Paradies auf die Erde geschickt wurden, mußten sie sich alle beim paradiesischen Einwohnermeldeamt abmelden. Es sollte ja kein Tier unterwegs verloren gehen. Und überhaupt: Ordnung muß sein.

Da standen sie nun alle vor dem Ausgang, groß und klein, dick und dünn, laut und leise. „Schlangestehen“ nennt man das seit damals zur Erinnerung, wer daran schuld ist: Die Schlange natürlich! Weil sie Eva überredet hat, in den verbotenen Apfel zu beißen, ist doch der ganze Ärger überhaupt erst entstanden. Deswegen mußten ja alle raus aus dem Paradies!

Manche Tiere waren aufgeregt („Endlich raus aus dem Laden hier, ist ja nix los“), manche traurig („Schade, war so schön unter meinem Baum“), manche muffelig („Wat soll datt denn nu schon wieder?“), manche neugierig („Bin ja mal gespannt auf die Erde!“), manche hungrig („Sieht gut aus, das Kaninchen da drüben. Ob das wohl auch schmeckt?“).

Sie standen nach dem Alphabet geordnet: Zuerst alle Tiere, deren Namen mit ‚A‘ anfing, dann die ‚B‘-Tiere, die ‚C-Tiere‘ – und so weiter und so fort. Jedes Tier sollte „Hier“ rufen, sobald es dran war. „Hier“ rief der Hamster und „Hier“ knurrte das Krokodil. „Hier“ säuselte der Kolibri und „Hier“ brüllte der ‚Löwe‘. ‚Hier‘ piepste die Maus, aber dann geschah etwas Unerwartetes: Bei „Meise“ hörte man zweimal „Hier“: Ein gezwitschertes und ein ganz leises. Noch einmal ertönte der Ruf „Meise“, diesmal etwas strenger. Wieder das gezwitscherte und wieder das piepsige „Hier“. Was war denn das? Einer der Engel kam aus seinem Büro und rief nochmals und ärgerlich „Meise!“. Und wieder kamen zwei Antworten!

Da wurde es dem Engel zu bunt. „Eine Frechheit“, schimpfte er. „Es ist schon Nachmittag, wir haben kaum die Hälfte der Tiere erfasst und hier will jemand Spielchen mit uns machen!“ Die Tiere grinsten in sich hinein und dachten, „Der hat eine Meise zu viel!“ Und auch den Ausdruck benutzt man ja bis heute, nur die Worte „zu viel“ sind inzwischen zu viel.

„Wer hat eben ‚Hier’ gerufen?“, fragte der Engel streng. Da meldete sich ein buntes Vögelchen, zwitscherte „Ich“, und direkt hinter ihm wisperte ein dunkelbrauner Millimeter mit zwei Antennen am Kopf ebenfalls „Ich“. „Ihr könnt doch nicht beide ‚Meise’ heißen“, fauchte der Engel. „Jeder Name ist bei der Schöpfung nur einmal vergeben worden.“ „Doch, doch“, versicherte der kleine Vogel, dem es sehr unangenehm war, dass er das Ganze aufhielt, „ich heiße so!“ Und leicht errötend fügte das Komma hinzu: „Ich auch, ich auch!“

„Jetzt ist es aber genug“, raunzte der Engel zurück. „Ich werde es Euch zeigen!“ Er ging hinein und kam mit einem dicken Buch zurück, in dem alle Tiere erfasst waren. „Das werden wir gleich haben“, murmelte er und schlug das Buch auf: „K, L, M – da sind wir schon. Maulwurf, Maus, Meerschweinchen. Hier. Hier unten auf der Seite steht es: Meise – kleiner bunter Vogel! Wie ich es gesagt habe.“ Sicherheitshalber wollte er auch auf der folgenden Seite nachsehen und blätterte um. „Und hier steht … ja, was ist das denn?“ Es folgte eine lange Pause. Dann sprach der Engel weiter: „Hier steht auch ‚Meise’ – kleines braunes Komma mit Fühlern!“ Ja, war das vielleicht peinlich! Da war der Paradiesverwaltung doch ganz offensichtlich ein Fehler unterlaufen: Sie hatte tatsächlich einen Namen doppelt vergeben!

Das ging ja nun gar nicht. Wie sollte man die beiden denn später unterscheiden? Da war guter Rat teuer, denn die eine Hälfte der Tiere war schon auf der Welt, die andere aber noch im Paradies. Der ganze Vorgang musste erst einmal aufgehalten werden. „Feierabend für heute!“, rief der Engel den Tieren zu. „Die im Paradies kommen morgen wieder, die anderen können schon gehen. Und ihr beide, ihr bleibt hier!“, verdonnerte er die beiden Meisen. Dann rief er seine Kollegen zusammen und fragte sie, was man denn nun machen solle.

„Gebt denen doch einfach einen neuen Namen. Gibt’s denn keine freien Namen mehr?“, fragte ein Engel. „Das schon.“, meinte der Ober-Engel, „Blödfurz, Stinkpickel und Eiterkäfer sind noch frei. Aber die wird keiner nehmen wollen. Du willst ja auch nicht Doofengel heißen.“

Ein anderer Engel schlug vor: „Gebt ihnen doch eine Formel anstelle eines Namens. Nennt das kleine Tier doch einfach @.“ Das ging leider auch nicht, weil dieses Zeichen auf einer Liste mit der Überschrift „Reserviert für später“ stand.

„Macht doch einen Doppelnamen draus! Das kommt später sowieso in Mode. Einfach was vorne dran setzen!“, rief endlich ein Dritter. „Ja, das ist mal eine gute Idee“, meinten alle. „Aber was sollen wir davor setzen?“ Und schon ging die Diskussion los.

„Wie wär’s mit einer Farbe, blau zum Beispiel?“ Das sei, fanden alle, eine gute Idee. Aber nun wollte man doch auf ‚Nummer sicher‘ gehen und vorher im großen Buch aller Tiere nachschauen, ob es den Namen nicht doch schon gäbe. Und leider: „’Blaumeise’ gibt’s schon“, wurde aus dem Namensbüro gerufen.

„Wie wär’s mit dem Lebensraum, Fichte zum Beispiel?“ - „Fichtenmeise gibt’s schon“, kam es aus dem Namensbüro zurück.

„Wie wär’s mit einer Eigenschaft, schlicht zum Beispiel?“ - „Schlichtmeise gibt’s schon“, kam es aus dem Namensbüro zurück.

„Wie wär’s mit einem öffentlichen Amt, Sultan zum Beispiel?“ - „Sultanmeise gibt’s schon“, kam es aus dem Namensbüro zurück.

„Wie wär’s mit einem Land, sagen wir Taiwan?“ - „Taiwanmeise gibt’s schon“, kam es aus dem Namensbüro zurück.

Das sah aber überhaupt nicht gut aus. Bis ein Engel ausrief: „Und wenn wir das Alphabet nehmen? Es wird zwar erst später erfunden, aber im Vorgriff darauf könnten wir doch bei einer der beiden Meisen einfach einen Buchstaben davor setzen! Das „A“ zum Beispiel.“ Alle warteten auf den Ruf aus dem Namensbüro. Man hörte hektisches Blättern. Und dann, endlich, der erlösende Ausruf: „A-Meise gibt’s noch NICHT!“ Alle jubelten, schwangen ihre Flammenschwerter, dass es nur so rauchte, sangen „Halleluja“ und was Engel sonst noch so singen.

Der Vorschlag wurde den noch immer am Tor wartenden Meisen weitergegeben. Der kleine bunte Vogel war ziemlich eitel und beanspruchte die „A-Meise“ für sich: „Ich bin hübscher als das Komma und ich kann besser singen. Da sollte ich auch eine „A“- Meise und keine „B“-Meise sein.“ Dem Komma war’s egal. Aber weil Engel einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn haben, war ihnen das bescheidenere Tier lieber, darum nannten sie es von diesem Tage an

A-Meise.

Und so ist es bis heute geblieben.

Aber da Engel selbst auch gerne singen, erließen sie der B-Meise das „B“ und nannten den kleinen Vogel einfach „Meise“. Damit waren schließlich alle zufrieden.

Uli Menz ist das Pseudonym des Autors dieser Geschichte. Er wurde in Leipzig geboren und besuchte dort bis zum Abitur das Leo-Trotzki-Gymnasium. Seinen Dienst in der NVA verbrachte er als Tierpfleger bei den Gebirgsjägern in Schneeberg. Nach der ‚Wende‘ absolvierte er eine Lehre als Tierpfleger im Biosphärenreservat ‚ Heimattierpark Ollerdissen‘ bei Bielefeld. Eigenen Angaben zufolge, erwachte dort sein Interesse für Tiernamen. Entsprechend studierte er im Anschluss an seine Lehrzeit, nun wieder in Leipzig, am dortigen Zentrum für Namensforschung das Fach Onomastik. Seine Promotion hatte das Thema: ‚Dumme Kuh? Scharfer Hund? Zur Anthropomorphie und Onomastik in der Tierliteratur des 17. Jahrhunderts‘. Nach der Promotion wechselte Menz nach Marburg, um am Fachbereich Biologie, Fachgebiet Tierphysiologie, ein Forschungsprojekt ‚Neopalpa donaldtrumpi – Politische und ökologische Aspekte der Nomenklatur neu entdeckter Tierarten‘ zu leiten. Daneben begann, er unter seinem richtigen Namen schriftstellerisch aktiv zu werden. Die im Seume-JOURNAL publizierten Geschichten sind seine ersten Gehversuche mit Einschlaf-Geschichten für Kinder – in der Familie des Autors erfolgreich erprobt.


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