Leben in einer Kommune – die tägliche Dosis Grenzüberwindung

Sven Luftschlosser // September 2021

Zu Besuch in der in der Kommune „Luftschlosserei“ bei Leipzig (© Foto: Luftschlosserei – Gelände e. V.)

„Grenzen überwinden, neue Blickwinkel eröffnen, Freiheit und Gerechtigkeit fordern“ – so beschreibt der Verlag J.G. Seume den Lebensimperativ seines Namensgebers und seinen eigenen Anspruch als Verlag. Johann Gottfried Seume ist gereist und hat geschrieben, um seine Grundsätze zu verwirklichen. In diesem Text nehmen wir ihn mit auf einen Spaziergang, der einen ganz anderen Weg zeigt, diese Werte umzusetzen: Das Leben in einer politischen Kommune!

Alle folgenden Zitate werden im Internet Johann Gottfried Seume zugeschrieben.

„Privilegien aller Art sind das Grab der Freiheit und Gerechtigkeit.“

Kommunen – sind das nicht viele Hippies auf einem Fleck, die gegen alles rebellieren, bekifft im Kreis sitzen und in jedem ihrer Fenster ein Transparent mit einer etwas zu simpel geratenen politischen Forderung hängen haben? Dieses Klischee hat mit der heutigen Kommune-Bewegung – ja, die gibt es! – genauso wenig gemein, wie es den in den späten 60er und 70er Jahren gegründeten Kommunen gerecht wird. Aber es verweist doch prägnant auf Kernthemen der damaligen Szene: Abgrenzung vom Establishment, persönliche und gesellschaftliche Befreiung, Utopien formulieren.

„Gegen den Strom der Zeit kann zwar der einzelne nicht schwimmen, aber wer Kraft hat, hält sich und lässt sich von demselben nicht fortreißen.“

Die Themen jener Tage können freilich auch heute noch Beweggründe dafür sein, in eine politische Kommune zu ziehen oder eine solche zu gründen. Doch die Zeiten haben sich geändert; Umbrüche in den vergangenen Jahrzehnten haben uns geprägt und neue Weltprobleme wurden sichtbarer. Die Motive von damals scheinen mir als Begründung für das Leben in einer Kommune nicht mehr zu genügen. In Kommunen zählt heute ein weiterer Anspruch stärker: Probleme lösen! Konkret: den ökologischen Fußabdruck verringern, mehr Gemeinschaft (statt Vereinzelung), mehr Sinn (statt Konsum), mehr Solidarität (statt Konkurrenz), mehr Selbstorganisation (statt Abhängigkeit), durch konkretes Tun im Außen wirken. Für all das sind Kommunen gleichsam Experimentierorte und Modelle. Experimentierorte, weil Fragen nach einem selbstbestimmten und möglichst „enkel*innentauglichen“ Leben immer wieder neu gestellt (und diskutiert) werden. Modelle, weil bei einem Besuch in einer Kommune einiges davon zu sehen ist, wie Nachhaltigkeit gelebt werden kann: zum Beispiel weniger Heizen (durch geteilte Küchen, Bäder und andere Räume), weniger Müll (durch geteilte Geräte, Großpackungen, Gärtner*innen und weniger Konsum), weniger Abgase (durch Großeinkauf für alle, durch Arbeit vor Ort), weniger Fliegen, Fleisch und frische Erdbeeren im November (durch geteilte Normen und andere Sinn stiftende Lebensinhalte), weniger Essensverschwendung (weil genug Leute da sind, die Reste essen). In eine Kommune zu ziehen ist das Gegenteil des Wartens darauf, dass die Politik es schon richten werde.

Gemeinsames Mittagessen in der Kommune „Luftschlosserei“ (© Foto: Luftschlosserei – Gelände e. V.)
„Das Loos des Menschen scheint zu seyn, nicht Wahrheit, sondern Ringen nach Wahrheit; nicht Freiheit und Gerechtigkeit und Glückseligkeit, sondern Ringen darnach.“

In einer Kommune zu leben, ist häufig anstrengend: Entscheidungen im Plenum herbeiführen, Konflikte aushalten und – idealerweise – lösen, Verantwortung für Aufgaben übernehmen, die richtige Balance finden zwischen der Akzeptanz für die Anliegen der Anderen und dem Eintreten für die eigenen Bedürfnisse. Wer in einer solchen Gemeinschaft leben möchte, sollte Lust mitbringen, persönlich zu wachsen, also die Grenze zwischen der eigenen Gewohnheit und einem „erweiterten Selbst“, das mehr Komplexität zulässt, zu überwinden. Ein Lohn für diese Mühen ist, dass das eigene Wachstum Hand in Hand geht mit der politischen und gesellschaftlichen Dimension des solidarischen Zusammenlebens: In Kommunen wird – das unterscheidet sie von Wohngemeinschaften – Geld miteinander geteilt und Entscheidungen werden im Konsens (möglichst) auf Augenhöhe getroffen. Verantwortlich sehen wir uns nicht nur für unsere Familie, sondern auch für unsere Nachbar*innen und zukünftige Generationen. In der Kommune, deren Teil ich bin, leben wir vegan. Unser Zusammenleben inspiriert viele Besucher*innen. Utopisch? Damit unsere Gesellschaft zukunftstauglicher wird, müssen wir – siehe Klimakrise und Artensterben – auch kollektiv eine Grenze überwinden: die Grenze zwischen dem, was heute den meisten Menschen als „normal“ gilt und dem, was vielen als utopisch oder als Sache Einzelner („die Ökos“) gilt.

Planung der Tagesstruktur und Aufgaben der Bewohner (© Foto: Luftschlosserei – Gelände e. V.)
„Niemand darf gezwungen werden, für einen anderen zu arbeiten; Arbeit soll aus freiem Willen getan werden.“

Im Netzwerk politischer Kommunen „Kommuja“ sind heute circa 40 Kommunen aus dem deutschsprachigen Raum miteinander verbunden. Manche sind familiengroß; die größte und älteste zählt über 50 Erwachsene und um die 20 Kinder und Jugendliche. Wir verbinden persönliche und gesellschaftliche Träume mit unseren Kommunen, arbeiten innerhalb unserer Projekte oder in Erwerbsarbeit außerhalb – und dabei immer auch „für die Sache“. Und manchmal werden sie wahr, die Träume: wenn wir sehen, was wir im Alltag erreichen, wenn Besucher*innen dankbar sind, wenn wir voneinander Unterstützung erhalten und wenn wir Andere unterstützen. Dann fühlt sich das Dasein bedeutsam und reichhaltig an. Ein Moment des Gelingens: das gute Leben und das Gute leben. Ja, vielleicht nur ein Moment – die nächste Herausforderung lauert sicher um die Ecke.

„Der Weise fragt nicht, ob man ihn auch ehrt, nur er allein bestimmt sich seinen Wert.“
Barockes Saarbrücken  (© Foto: Tom Gundelwein)

Ich lebe in der Kommune „Luftschlosserei“, 30 Kilometer südwestlich von Leipzig. 2012 bin ich zur damaligen Planungsgruppe gestoßen, seit 2014 teilen wir unser Geld, seit 2017 wohnen wir auf unserem Gelände mit einem Vier-Seiten-Hof und Wiesen. Wir sind derzeit sieben große Menschen und ein Baby. Arbeit gibt es immer mehr als genug, auch Überforderungen, Rückschläge, Trennungen, Ausstiege und Einstiege. Zwei Gebäude warten darauf, saniert zu werden, ein Acker auf ambitionierte Gärtner*innen und auch in dem Haus, in dem wir wohnen, ist noch viel zu tun. Das Ganze hat Baustellencharakter. Eine typische Äußerung von Leuten, die mich oder uns zum ersten Mal besuchen, ist, dass das alles ja sicher einmal sehr schön werde, wenn der Hof fertig ausgebaut sei. Futur? Fertig? Nein, auf einen fertigen Zustand kann und muss ich nicht warten: Die Arbeit am Projekt, das Werden, das Schreiben einer gemeinsamen Geschichte als Gemeinschaft ist das Leben. Das habe ich hier gelernt. Das Paradies gilt es nicht nur zu finden, sondern auch zu erkennen.

Anmerkung des Verlags: Mehr zum „Luftschlosserei“ Kommuneprojekt bei Leipzig erfahren Sie unter https://luftschlosserei.org

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