Grenzüberschreitungen: Was hat Hitler in Kirchen zu suchen?

Dr. Michael Kuderna // März 2022

Kirche St. Thérèse in Vasperviller (© Foto: Michael Kuderna)

Ein pfälzischer Architekt, der seinen Lebensmittelpunkt in das lothringische Nachbarland verlegt und schließlich auch die Staatsangehörigkeit wechselt, ein französischer Minister, der kreativ gesetzliche Vorschriften umschifft, eine Künstlerin, die Hitler als Bildnis in die Kirche einlässt und biblische Konflikte bis hin zum Bruch religiöser Gesetze thematisiert – das sind einige Spielarten von Grenzüberschreitungen, mit denen ich mich bei der Beschäftigung mit Karl Litzenburger, seinem Kirchbau in Vasperviller (Moselle) und einem der dort zu sehenden Motivfenster konfrontiert sah. So erklärt sich auch, dass die Wahl des Titels für mein Buch, das vor allem dieser leider noch viel zu unbekannten Kirche und Hitler-Darstellungen auch in anderen Gotteshäusern gewidmet ist, auf „Grenzüberschreitungen“ fiel.

Selbst undefinierte Grenzen sind und lassen nicht gleichgültig

Zunächst ein paar kurze Anmerkungen zu diesem Begriff. Wenn wir von Menschen oder Mächten berichten, sie hätten Grenzen überschritten, so ist das selten positiv gemeint. Zumindest aber ist es diskussionsträchtig, nicht selbstverständlich. Bei realen Grenzen denken wir meist an territoriale Bezüge, etwa an Grundstücke oder an Länder. Ihre Ausgestaltung bis hin zu den Extremen, etwa in Form von Mauern oder aber kaum sichtbar, nur noch durch Vermessungsmarken gekennzeichnet, hängt meist vom Grad des Vertrauens oder des Abgrenzungsbedürfnisses der Nachbarn ab.

Seit der stürmischen Entwicklung der elektronischen Medien sind Grenzüberschreitungen aber auch jenseits von Träumen oder Gedanken ins individuelle Alltagsgeschehen integriert, mühelos und weitgehend wertfrei. Virtuelle Reisen und Erkundungen über alle Grenzen hinweg weiten den Horizont, können aber selbstverständlich auch zweifelhaften Zwecken dienen.

Generell können Übertretungen – realer oder virtueller Art - je nach Akteur und Umständen toleriert, beschränkt, überwacht, sanktioniert und sogar verhindert werden, aber auch erwünscht sein.

Noch stärker wird das Leben des einzelnen jedoch durch andere, unsichtbare Begrenzungen beeinflusst, darunter selbstgesteckte, normative, moralische oder sonstwie mentale Barrieren. Diese spielen gerade in der Kunst eine große Rolle und sind nur kontextuell zu verhandeln.

Aktuelle Diskurse über den Freiheitsbegriff machen das Nachdenken über den Begriff der Grenzüberschreitung schwieriger. Ist beispielsweise eine „grenzenlose Freiheit“ ein Pleonasmus? Immerhin deuten solche Überlegungen darauf hin, dass zumindest im Bereich des Kulturellen auch die Intensität und die Häufigkeit von Grenzüberschreitungen eine Rolle dafür spielen, ob sie überhaupt noch wahrgenommen und als legitim empfunden werden.

Ein kleines Dorf sprengt Grenzen

Dies alles soll hier nicht systematisch ausgebreitet werden, aber doch im Weiteren zumindest mitbedacht sein. Wenden wir uns nun also ganz konkret Vasperviller zu. Das kleine lothringische Dorf an der roten Saar liegt abseits aller Wirtschafts- oder Touristenströme. Das ist sicher eine Erklärung, warum die 1968 erbaute Kirche so wenig Beachtung gefunden hat. In den letzten Jahren deutet sich aber ein Wandel an. Der Staat hat den Bau 2016 durch die Vergabe eines Labels für bedeutende zeitgenössische Architektur geadelt und bei einem gerade in einem Schweizer Verlag erschienenen Buch über lothringische Kirchen aus den 30 „glorreichen“ Nachkriegsjahren (Lucile Pierron: Églises Lorraines des Trente Glorieuses, Genève 1921) ziert ihr Äußeres sogar als Foto das Cover – ein Pendant zu meiner eigenen Veröffentlichung. Allerdings widmet Pierron der Kirche im Buch selbst nur ein paar auf extrem schmaler Quellenbasis fußende Zeilen.

Dabei ist schon die Entstehungsgeschichte von Sainte-Thérèse ein spannendes Kapitel, in dem sich Kirchen-, Architektur- und Zeitgeschichte verschränken. Kirchengeschichte: Gegen Ende der langen Planungszeit öffnete sich durch das Vatikanische Konzil das Fenster, das den „modernen“ gemeindezentrierten Vorstellungen der entscheidenden Protagonisten zum Durchbruch verhalf. So entstand in Vasperviller eine Kirche im Sinne organischen Bauens, die den Blick ganz ohne symmetrische Strenge auf den Altar als spirituelles Zentrum ausrichtet. Architekturgeschichte: Zwar ist schon auf den ersten Blick der Einfluss Le Corbusiers ikonografischer Kapelle in Ronchamp (1955) auf Sainte-Thérèse sichtbar, doch erreichte Litzenburger mit viel bescheideneren und traditionellen Baustoffen (etwa mehr Ziegeln anstelle der angesagten Betonbauweise) eine vergleichbare Wirkung und entwickelte den Baukörper mit einem „Turm in der Kirche“ zudem konzeptionell weiter. Spätestens an diesem Punkt kommen auch die zeitgeschichtlichen Bezüge zum Tragen: Der in die Kirche integrierte Kapellen-Turm ist ein bemerkenswerter Beitrag zur Erinnerungskultur. Sie ist nämlich „modernen Märtyrern“ gewidmet. Eine eindrucksvolle Stahlskulptur hält das Gedächtnis an drei Nazi-Opfer aus der Region wach: einen katholischen Priester aus Walscheid, in Berlin hingerichtet, einen mennonitischen Landwirt aus Niderhof, als Fluchthelfer in Sarrebourg gehängt, und einen jüdischen Kaufmann aus dieser Kleinstadt, in Auschwitz vergast. Ein kleines Fenster mit leuchtend-blauem Davidstern verstärkt den ökumenischen Geist, den das Mahnmal an die düsteren Jahre im deutsch-französischen Grenzgebiet ausstrahlt.

Südfassade der Kirche St. Thérèse (© Foto: Michael Kuderna)

Ein deutscher Architekt in Frankreich

Vor dem Hintergrund der Kriegs- und Besatzungsjahre – nur wenige Kilometer von Vasperviller entfernt verlief die Grenze zwischen dem deutsch besetzten Gebiets und dem Departement Meurthe-et-Moselle - erscheint es umso bemerkenswerter, dass ausgerechnet ein deutscher Architekt den Auftrag für den Kirchbau erhielt. Die Biografie Litzenburgers ist selbst ein Beispiel für ein Grenzschicksal. 1912 in Ludwigshafen geboren, war er zwar durch die Erziehung in einem streng katholischen Elternhaus gegen den Ungeist des Nationalsozialismus grundimmunisiert. Mit Frankreich kam er allerdings erst nach dem Architektur-Studium durch seinen zeitweise erfolgreichen Versuch, dem Waffendienst zu entkommen, in Berührung, und das als Beschäftigter der deutschen Besatzer. Dabei lernte er seine Frau Léontine kennen. Sie wurde 1915 im Reichsland Elsaß-Lothringen geboren, als Konsequenz des Versailler Vertrags 1918 französische Staatsbürgerin und mit der Hochzeit in Metz automatisch erneut Deutsche. Schließlich wurde ihr 1955 auf Antrag rückwirkend wieder die französische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Es ist also ein nicht ganz untypisches Beispiel für die wechselhaften Rahmenbedingungen und nationalen Zuschreibungen in Grenzgebieten.

Doch zurück zu Karl Litzenburger: Er musste dann doch an die Ostfront, kam tief erschüttert zurück (was sich auch in einem Entwurf einer monumentalen Totengruft als Wettbewerbsbeitrag für das „Deutsche Eck“ in Koblenz niederschlug), und kehrte nach einigen Jahren als Bauamts-Leiter Deutschland den Rücken. Er machte sich in Niderviller, dem Heimatort seiner Frau, selbständig. 1978 nahm er die französische Staatsbürgerschaft an, und so starb er 1997 als „Charles“ Litzenburger.

In den 50er und 60er-Jahren war er also noch formal Deutscher. Damit war er wegen Eigenheiten des französischen Baurechts von größeren öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen, da er nicht in die dortige Architektenkammer aufgenommen werden konnte. An diesem Problem wäre beinahe der Kirchbau auf der Grundlage seiner Pläne und seines jahrelangen Engagements gescheitert.

Es ist eine abenteuerliche Geschichte, wie sich der Knoten doch noch gelöst hat. Entscheidend war das direkte Eingreifen des französischen Kulturministers André Malraux, der einerseits eine Sondererlaubnis für Litzenburger veranlasste und zudem – auf welchem Weg auch immer – dessen Aufnahme in die Architektenkammer erreichte. Auf Anfrage beharrt diese noch immer darauf, Litzenburger sei damals schon französischer Staatsbürger gewesen und es sei deshalb alles regulär abgelaufen – doch tatsächlich wurden die gesetzlichen Grenzen offenbar kreativ überschritten, sei es durch absichtliches Wegsehen oder durch einen kleinen Fehler in den Unterlagen.

Provokante biblische Geschichten

Grenzen in der Kunst haben natürlich einen ganz anderen, fließenderen Charakter. In Vasperviller spielen sie in den 17 Fenstern an der Nordwand eine Rolle. Dort hat Gabriele Kütemeyer aus Heidelberg den Stammbaum Christi thematisiert und dabei vor allem biblische Begebenheiten ausgewählt, die mit dem „normalen“ sittlichen Empfinden in Konflikt stehen. Bewusst habe sie „Gegenläufigkeiten, Durch-Kreuzungen und Grenzüberschreitungen“ aufgegriffen, um „die Entstehung des Skandalons wiederzugeben, das Christentum heißt“, erklärte die Künstlerin die Auswahl. So sehen wir Szenen, die von Verführung, Ekstase, Betrug, Machmissbrauch und Gewalt handeln oder von Konflikten zwischen religiösen Vorschriften und tatsächlichem Heilsgeschehen (z.B. Erstgeburtsrecht). Aufsehen hat vor allem eine Glasscheibe erregt: Auf ihr wird dargestellt, wie Rahel bei ihrer Flucht mit ihrem Ehemann Jakob die Hausgötter ihres Vaters stiehlt. Einer dieser Büsten verlieh Kütemeyer die Gesichtszüge Adolf Hitlers. Sie kam auf die Idee, weil ihr Vater, ein Philosoph und Mediziner, von der „Götzenanbetung in der NS-Zeit“ gesprochen habe, berichtete Kütemeyer später.

Hitler als „falsches Idol“ in der Kirche St. Thérèse (© Foto: Emanuel Kuderna)

Was hat Hitler in Kirchen zu suchen?

Dies führte mich zu der Frage, ob es sich um eine einmalige, kühne Allegorie handele, oder ob Hitler öfters in Kirchen „verewigt“ ist. Und tatsächlich erbrachten die Recherchen im deutschsprachigen Raum weitere 16 Fälle, in denen der Diktator tatsächlich oder vermeintlich auf Bildern, in Glasfenstern, an Wänden oder sogar Altarflügeln gesichtet wurde.

Besonders interessant sind dabei sieben Kirchen, deren Ausstattung vor 1945 erfolgte. Durch kombinierte Untersuchungen zum Bildthema, dessen Funktion, des Stils, der Persönlichkeiten von Künstler und Auftragsgeber sowie des lokalhistorischen Kontextes konnten dabei einige angebliche Entdeckungen ausgeschlossen und andere mit einem unterschiedlichen Grad an Wahrscheinlichkeit versehen werden. Danach dürfte es zumindest zwei Fälle geben, in denen Künstler Hitler noch während der Naziherrschaft als teuflischen Verführer (Weil der Stadt) oder Verbrecher (Schächer am Kreuz in Bad Dürkheim) dargestellt haben. Beide blieben zum Glück für ihre Schöpfer unbeachtet.

Nach dem Krieg waren derartige Kunstwerke für ihre Schöpfer ungefährlich. Also kann man in verschiedenen katholischen Kirchen im west- und süddeutschen Raum sowie in Österreich Hitler als Teufel, als Verdammten in der Hölle oder als Folterknecht finden. Mit zunehmender zeitlicher Entfernung von der Nazizeit wird er stärker historisiert, etwa als Aufseher von Adenauer, der als Daniel in der Löwengrube sitzt, oder als ein Mitläufer in einer Schar von Narren, der auch der zur Entstehungszeit noch amtierende US-Präsident Donald Trump angehört.

Ist es eine Grenzüberschreitung, Hitler in sakralen Räumen künstlerisch einzubeziehen? Darüber muss sich letztlich jede Betrachterin und jeder Betrachter selbst ein Urteil bilden. Eigentlich stehen solche Darstellungen ja durchaus in einer langen, wenn auch zeitweise vergessenen Tradition „einer streitbaren Kirche, die instinktsicher einen Trennungsstrich zog zwischen Freund und Feind, und den Feind sichtbar machte, daß ihn die Christenheit erkenne“ - so der Künstler Max Lacher, dem Hitler-Bilder in Kirchen in Landshut und München zugeschrieben werden. Andererseits könnte man einwenden, es sei zumindest eigenwillig, wenn hier Menschen das Urteil Gottes vorwegnehmen; doch würde man dieses Argument umgekehrt bei Vorbildern wie Märtyrern oder Herrschern im christlichen Geist gelten lassen? Die Folge wäre dann ein wahrer Bildersturm.

Hitler als Anfrage an die Betrachter

Mehr Aufmerksamkeit verdient eine andere Problematik, nämlich die Rezeption. Fast immer, wenn das Antlitz Hitlers in Kirchen gesichtet wird, führt dies bei einigen Menschen zu Erregungszuständen. Lassen wir einmal die Neonazis beiseite, die es in ihrer Geistesverwirrung sogar als Auszeichnung empfinden und im Einzelfall schon mal an solche Orte „pilgern“, so gibt es aber auch zahlreiche Kirchenbesucher, die die künstlerische Verarbeitung als anstößig empfinden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit kam es sogar zu Anfeindungen und einem Tintenattentat. Damals spielte es bei manchen sicher noch eine Rolle, nicht gerne durch Scheitel und Schnauzbart ein verfremdetes Spiegelbild vorgehalten zu bekommen und an eigene Unterstützung oder Mitläufertum in der NS-Zeit erinnert zu werden.

Aber warum rufen noch heute Nachgeborene die Bild-Zeitung an, wenn sie Hitler entdecken? Warum macht in einem Fall ein Tourismusamt sogar Werbung mit einem angeblich widerständigen Fresko, das in Wirklichkeit offenbar von antisemitischen Geist durchdrungen ist? Warum interessiert sich eine große englische Tageszeitung für das Thema? Und warum fühlen sich einige in ihrer Andacht durch mittelalterliche Fratzen, Totenschädel oder den Sensenmann weniger gestört als durch den geschichtlich realen großen Ver-Führer?

Kurzum: Viele empfinden die Hitler-Darstellungen in Kirchen auch bald 70 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes immer noch als eine zumindest fragwürdige Überschreitung von Grenzen, sie wollen damit nicht konfrontiert werden. Da liegt die Vermutung nahe, dass noch viel Unverarbeitetes, Verdrängtes und Irrationales mit im Spiel ist – ein weites Feld für rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen.

Wolfgang Kerkhoff, Freier Autor Portrait

Dr. Michael Kuderna hat in München Politik, Germanistik und Geschichte studiert. Er war jahrzehntelang als Journalist beim Saarländischen Rundfunk tätig, arbeitete für Agenturen und verschiedene Print-Medien und leitete lange Zeit die Landespressekonferenz Saar sowie die interregionale Journalistenvereinigung IPI. Autor u.a. von "Christliche Gruppen im Libanon" (Steiner Verlag Wiesbaden 1983) und Mitherausgeber von "Medienlandschaft Saar" (3 Bd., Oldenbourg Verlag München 2010).

Buchcover Grenzüberschreitungen. Ein deutsch-französischer Architekt, sein Meisterwerk und Hitler-Bilder in Kirchen von Dr. Michael Kuderna

Grenzüberschreitungen. Ein deutsch-französischer Architekt, sein Meisterwerk und Hitler-Bilder in Kirchen von Dr. Michael Kuderna und mit einem Vorwort von Prof. Rainer Hudemann, Sorbonne.

Geistkirch Verlag, Saarbrücken, Hardcover mit Lesebändchen, 440 Seiten, Preis 29,80 €, ISBN: 978-3-946036-31-9

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