‚Eine Impfung gegen die Verblödung‘

Wolfgang Kerkhoff // Januar 2022

Der Sänger-Poet Georges Brassens (1921-1981)

Georges Brassens Konzert im Théâtre national populaire, 1966 (© Foto: Bibliothèque nationale de France, gemeinfrei, wikipedia.org)

Reinhard Mey hat 28 Studioalben herausgebracht. „Mehr als 500 Lieder“ habe er gedichtet, erzählen Freunde. Respekt! Damit hätte er sogar einen übertroffen, der – ohne es zu ahnen – mitgeholfen hat, ihn überhaupt erst zum Chansonnier zu machen: Georges Brassens. Dieser Sänger-Poet war einer der ganz Großen des französischen Chansons. 1921 ist er geboren, 1981 gestorben. Die runden Jahrestage im Oktober wurden mit Freude und Trauer ausgiebig zelebriert.

Das Geburtshaus des franz. Chansonniers Georges Brassens in Sète (Hérault). (© Foto: Harvey Kneeslapper gemeinfrei, wikipedia.org)

Reinhard Mey begegnete Brassens zuerst virtuell, dann real, aber mit einem überraschenden Effekt. Virtuell – das war, als der pubertierende Berliner Gymnasiast zwecks Schüleraustauschs in die Ardèche geschickt wurde. Dort fand er schnell Gefallen an den leicht schweinischen Texten des Sängers, der in Paris gerade die erste Welle seines Erfolgs erlebte. Der faiseur de chansons – eine Berufsbezeichnung, die Brassens später selbst wählte – traut sich, auf der Bühne darüber zu singen, wie ein entlaufener Zoo-Gorilla einen Strafrichter vergewaltigt oder wie Voyeure sich an einer braven Schäferin aufreizen. Er verwendet frei heraus Begriffe wie „Nutte“ oder „Arsch“, er nennt Geschlechtsteile und Exkremente beim Namen, redet von Nonnen, die lustvollen Umgang mit Kerzen pflegen, macht sich lustig über Gendarmen, Pfaffen, alle Spießer und Ideologen …

Dieser Rebell ist später zum „Molière des Chansons“ geworden. Er hat mehr als 200 Lieder geschrieben, die eigentlich Gedichte sind und heute in den Schulen durchgenommen werden. 1967 hat ihm die Académie Française den Großen Poesiepreis verliehen. Als es 1970 einen gut gemeinten Vorstoß gab, ihn ehrenhalber in ebendiese Académie aufzunehmen, konterte er lapidar: „Wenn Ihr mich in den Kreis der Unsterblichen aufnehmen wollt, dann wartet gefälligst, bis ich tot bin!“ Brassens wäre gern Dichter geworden, ein richtig großer, ohne Frage. Er hat es oft wiederholt. Aber irgendwann auch „eingesehen“, so sagt er selbst, dass sein Talent nicht reicht, um ein Villon, ein Aragon, ein Verlaine oder Baudelaire zu werden. Er habe sich dann „dem Chanson geopfert“, was angesichts seines enormen Publikumserfolgs ein bisschen kokett klingt. Als die Diskussion um seine Unsterblichkeit aufkam, war übrigens an der Sorbonne schon die erste Doktorarbeit über ihn geschrieben: „Le vocabulaire de Brassens“. Sein Vokabular ist in der Tat etwas Besonderes. Er schafft es, in poetischer Sprache auch derbe Botschaften zu verpacken – gegen Nationalismus und Krieg, gegen Rassismus und Gewalt, gegen Todesstrafe und Polizeiwillkür, gegen Konformismus und Heuchelei, gegen Fanatiker aller Art und gegen Banausen, die immer allein Recht haben wollen. Aber er kämpft auch für etwas: Man könnte es einen libertären Humanismus nennen. „Nimm dich selbst nicht wichtiger als andere“ wäre eine knappe Übersetzung dieser Haltung. Eine Zeitlang schrieb er für die anarchistisch angehauchte Wochenzeitung Le Libertaire. Damit machte er sich nicht nur Freunde. Die Regierung verbot es später den Radiosendern, ein Dutzend seiner staatskritischen Chansons zu spielen.

Darunter auch das sehr frühe, traurig gestimmte „Pauvre Martin“, das man als eine Anklage gegen jede Form von Verknechtung lesen kann. Es handelt von Landarbeitern, die keine eigenen Felder und keine Chance haben, je aus dem Elend herauszukommen… Brassens war also immer politisch, wenn er sich auch nie aktiv einmischte. Im ebenfalls zensierten „Gorille“ zum Beispiel muss man die sexualisierte Gewalt gegen den Richter auch als Statement gegen die Todesstrafe verstehen, denn dieser hatte laut Liedtext am Morgen des Ereignisses gerade noch ein Todesurteil gefällt.

Georges Brassens im Théâtre du Capitole, 1963 (© Foto: gemeinfrei, wikipedia.org)

Wenn Brassens sich später nicht direkt an der gesellschaftspolitischen Debatte beteiligte, so doch mittelbar, weil seine wachsende Fangemeinde sich zunehmend im Staat einmischte. In dem gesellschaftlichen Klima der 68er-Unruhen war Brassens jedenfalls eine Instanz. Allerdings war er nie für den Kollektivismus, den viele der damaligen Akteur*innen im Kopf hatten. Bei ihm heißt das so: „Der Plural ist nichts für uns Menschen. Sobald mehr als vier zusammenkommen, sind sie nur noch ein Haufen Deppen.“ Er blieb lieber Einzelgänger, aber solidarisch („solitaire, mais solidaire“). Einige warfen ihm vor, dass er nur Trallala mache, aber nichts zu dem Skandal des Vietnamkriegs zu sagen hatte. Seine Antwort: „Kratzt mal ein bisschen an meinen Chansons, dann findet ihr Vietnam!“

Seine exponentiell steigende Popularität war zunächst nicht garantiert. Denn in Frankreich breitete sich wie anderswo seit dem Kriegsende der Jazz aus, und ob für die eher volkstümlichen Texte und Melodien eines Intellektuellen da noch Platz ist, das war nicht ausgemacht. Brassens war ein Fan des Jazz, und trotzdem ging er seinen Weg. Dabei machte er sich auch keine Illusionen über seine Stimmgewalt, über Tonumfang und Atemtechnik. Er wollte deshalb zunächst gar nicht selbst singen, sondern für andere schreiben, das wäre seinem zurückhaltenden Wesen auch sicher näher gewesen. Einmal sagte er zu dem Thema: „Ich bin doch kein Exhibitionist.“ Es war dann die Schauspielerin und Sängerin Patachou, die nicht nur als erste Brassenslieder sang, sondern ihn auch nötigte, in ihrem Pariser Kabarett Pâte à choux damit selbst aufzutreten und bewusst einen Kontrapunkt gegen die importierten Genres zu setzen.

Sängerin Patachou, 1961 (© Foto: Wim van Rossem / Anefo, gemeinfrei, wikipedia.org)
Sängerin Patachou, 1961 (© Foto: Harry Pot / Anefo, gemeinfrei, wikipedia.org)

Brassens‘ Chansons haben eine außergewöhnliche poetische Tiefe. Die Texte sind voller Anspielungen und Wortspiele (keine Kalauer, die er verachtete), so dass man auch beim hundertsten Anhören noch einmal auf etwas Neues stoßen kann. Insofern wäre es auch zu kurz gedacht, würde man seinen Erfolg vor allem den kleinen Tabubrüchen zuschreiben, die den jungen Reinhard Mey auf den Geschmack gebracht haben.

Viele haben seine Lieder gesungen, auch zu seinen Lebzeiten schon. Joan Baez zum Beispiel oder Iggy Pop. Dann Georges Moustaki, Barbara, Maxime le Forestier. In Deutschland waren es Reinhard Mey, wen wundert’s, aber auch Hannes Wader und Franz-Josef Degenhardt, dem einige sehr einfühlsame Übersetzungen – eher: Nachdichtungen – gelungen sind. In Frankreich ist Brassens nicht nur im Jahr seines 100. Geburtstags ständig präsent. Da entwickelte sich zum Beispiel auf Facebook vor kurzem eine gepfefferte Diskussion über die Frage: Kann man rechts wählen und Brassens mögen, diesen libertären Menschenfreund, diesen Pazifisten? Die Lagerbildung war schnell unübersichtlich, und sogar viele derjenigen, die sich in Postings klar hinter Brassens gestellt haben, verstießen gegen dessen Grundgesetz, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen.

Ironische Zwischentöne in seinen Chansons waren und sind immer Anlass für erregte Debatten: Ist Brassens frauenfeindlich, weil er in seinen Gedichten oft herablassend über Frauen redet? Oder ist es nicht so, dass seine Hauptbotschaft lautet: Lasst euch nichts vormachen, ihr Frauen, lebt euer Leben! Überliefert ist der Satz: „Für mich gibt es 'die Frau des Nachbarn' nicht. Sie gehört ihm ja nicht.“

Manchmal sprach der Meister von einer „Poesie für alle“. Das klingt wie ein egalitärer Schlachtruf. Aber Brassens – hier ganz Autorität – setzte bei seinen Zuhörer*innen auch voraus, dass sie sich auf die schwierigen Themen und Passagen einlassen: „Ein bisschen Talent muss das Publikum schon haben“, verlangte er in einem Gespräch mit France Culture. Das ist ihm natürlich als pure Arroganz ausgelegt worden, aber er ist dabei geblieben. Er schreibe seine Verse und singe „für den kultivierten Hausmeister“, war seine Definition für eine Harmonie der Widersprüche, die ihn in seiner Arbeit auch immer vorantrieb.

Der Maître hatte zu seinen Lebzeiten schon mehr als 20 Millionen Schallplatten verkauft! Eine beispiellose Bühnenkarriere, die Mitte der 50er-Jahre im Pariser Umfeld des Olympia und des Bobino begonnen hatte, ging 1981 zu Ende. Oder auch nicht: Denn die Schar seiner Anhänger*innen und Schüler*innen, die bis heute Brassens singen, ist gewaltig. Trotz Knast-Erfahrung in der Jugend blieb er ein Leben lang vor allem ein sensibler Humanist, dem Konformismus und Selbstgerechtigkeit ein Dorn im Auge waren. „Es missfällt mir nicht, manchen Leuten zu missfallen“ – das war sein Credo. Ein Moralist zwar, der sich aber immer davor hütete, andere zu bevormunden oder zu belehren.

Die Dorfkirche Basdorf mit Kriegerdenkmal, 2007 (© Foto: gemeinfrei, Wikimedia Commons wikipedia.org)

Der faiseur de chansons hat auch in Deutschland Spuren hinterlassen, wenn auch unfreiwillig. In Basdorf, heute Teil des ehemaligen DDR-Bonzenterrains Wandlitz im Norden von Berlin, gibt es einen Brassens-Platz, eine Brassens-Bibliothek, einen kleinen Brassens-Park … Und das kam so: Im Frühjahr 1943 ist Georges Brassens 21 Jahre alt und lebt in Paris bei seiner Tante Antoinette, die ihm auch Klavier beibringt. Er solle sich doch mal auf dem Bürgermeisteramt melden, heißt es eines Morgens. Dort bekommt er dann seinen „Gestellungsbefehl“: Abmarsch nach Berlin, „travail obligatoire“, Arbeit zum Nulltarif für die Deutschen, die damals – zeitweise zusammen mit den italienischen Faschisten – in ganz Frankreich das Sagen haben. In Basdorf stoppt der Zug, dort wo heute noch die Heidekrautbahn anhält. Brassens wird zusammen mit anderen jungen Landsleuten zur Bramo gebracht, einer Firma, die Flugzeugaggregate montiert und repariert. Kriegswichtige Industrie, eine Last für das pazifistische Herz des jungen Franzosen. Mit Dichten und Komponieren hält er sich mental über Wasser, überspielt seine innere Empörung mit ironischen Texten. Den Flügel, auf dem zum Beispiel das erwähnte und später berühmt gewordene „Pauvre Martin“ entsteht, gibt es in Basdorf heute noch.

Im Frühling des zweiten Lagerjahres hat Georges die Schnauze voll. Von einem Heimaturlaub im März (die Rede ist von einem getürkten Krankenschein) kehrt er nicht zurück, taucht in Paris unter. Dazu hatten seine Kameraden ihm geraten, obwohl klar, war dass es ihnen selbst unweigerlich eine Urlaubssperre einbringen würde.

Wenn man heute durch den Wald und die Wiesen zwischen Basdorf und dem Nachbarort Zühlsdorf wandert, findet man gelegentlich noch Bauteile und Metallschrott aus der Zeit. In Zühlsdorf stand die Bramo-Filiale Zühmo, in der Brassens auch eingesetzt war. Die Brandenburgische Motorenwerke GmbH hatte hier ein Zweigwerk, seit 1939 gehörte es als „Werk 9“ zu BMW. Man sollte wissen: Beim Konzern BMW waren zu der Zeit rund zwei Drittel der 56.000 Beschäftigten Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge.

Die Kantine in Basdorf, Brandenburg (© Foto: Wolfgang Kerkhoff)

In den Basdorfer Gärten stehen zum Teil heute noch die Baracken des Lagers. Die Natur nimmt sich das Terrain aber zurück. In der Nummer 26, wo die Brassens und Genossen sich Stube 5 teilten, wächst ein Baum durchs Dach. Nebenan, im ehemaligen Kasino, das liebevoll wiederhergerichtet wurde, gab es im Oktober 2021 das 18. Festival Brassens, organisiert vom Verein „Brassens in Basdorf“, der damit auch einen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten will.

Offiziell ist Brassens nie in Deutschland aufgetreten. Manche glaubten zu wissen, „dass das wegen dem Lager in Basdorf ist“. Darauf kennt Gerhard Kismann, der Ehrenpräsident des Festival Brassens (organisiert vom Verein „Brassens in Basdorf“) aber eine andere Antwort: „Er hatte gar nichts gegen Deutschland. Es war eher wegen der Sprache.“ Er habe sogar versucht, ein paar seiner Texte auf Deutsch zu singen und wollte das einbauen in ein kleines Tournee-Programm für Deutschland. „Darüber haben wir im Mai 1981 gesprochen, im Herbst wollten wir ins Detailgehen. Aus bekannten Gründen ist leider nichts daraus geworden.“ Die bekannten Gründe: Brassens geht es ab Sommer immer schlechter, sein Krebs macht ihm zu schaffen, und am 10. Oktober zieht er sich von Paris nach Südfrankreich zurück, wo er am 29. Oktober um 23.14 Uhr seinen letzten Atemzug tut.

Nathaniel Hones Gemälde „The Conjuror“ (1775), das Sir Joshua Reynolds verspottet und auf eine Romanze mit der jüngeren Angelica Kauffman anspielt.  (© Foto: Dublin, The National Gallery of Ireland gemeinfrei, Wikimedia Commons wikipedia.org)

Libération brachte die Top-News auf ihre Art: „Brassens casse sa pipe“. Er hat den Löffel abgegeben, könnte man das übersetzen, aber dann wäre der Doppelsinn verloren: Brassens war ein leidenschaftlicher Pfeifenraucher. Manche fanden die Schlagzeile respektlos, aber beim zweiten Hinschauen zeigt sich doch auch: Das war genau Brassens‘ Humor! Die Zeitung erschien übrigens am 31. Oktober als Doppelnummer auch für Allerheiligen. „Die Chrysantheme ist die Margerite der Toten“ heißt es in einem seiner Lieder. Am 1. November waren die französischen Landstraßen wie immer gesäumt mit Ständen, an denen die Herbstblumen als Grabschmuck verkauft wurden. Im Radio lief Brassens auf allen Sendern, es lag wie eine Staatstrauer über dem ganzen Land. Staatspräsident François Mitterrand telegraphierte an die Presse: „Brassens hat das Bündnis zwischen Poesie und Musik vorangebracht, und sein Werk gehört schon jetzt zum nationalen Kulturerbe.“

Der Text stützt sich auf zwei Veröffentlichungen des Autors:

1. „Ein solidarischer Einzelgänger“, abrufbar unter menschenwelt.info/pages/brassens.htm

2. „Basdorfer Tage. Zwölf Anmerkungen zum Brassens-Jahr 2021“, bestellbar unter menschenwelt.info/pages/basdorf.htm


Wolfgang Kerkhoff, Freier Autor Portrait

Wolfgang Kerkhoff war Zeitungs- und Onlineredakteur, hat lange als Texter und Pressesprecher für die saarländische Landesregierung gearbeitet. Als freierAutor widmet er sich historischen und kulturellen Themen. Er betreibt den Blog „MenschenWelt“ www.menschenwelt.info

Weitere Publikationen von Wolfgang Kerkhoff:

  • „Über Nachhaltigkeit reden: Grenzen des politischen Marketings“ in: „Als gäbe es ein Morgen – Nachhaltigkeit sollen, wollen, können“ – herausgegeben von Alfons Matheis und Clemens Schwender, Metropolis-Verlag Marburg, 2021
  • „Der Tag im März. Protokoll einer ungewöhnlichen Quarantäne“, Kindle-eBook Download, 2020

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