Die Abkürzung - Eine jugoslawische Erzählung

Dr. Ralph Schock // Juni 2022

green trees on mountain during daytime photo © Foto: Hans Eiskonen, Creative Commons Licence Unsplash

Für Arnfrid Astel

»You have a better road map than I have.« Ein paar Tage zuvor waren das ihre ersten Worte gewesen, am Rande einer kleinen Landstraße zwischen Split und Dubrovnik. Kein Wagen hatte gehalten, obwohl wir die einzigen Tramper waren. Weil sie meine bisherige Route hatte wissen wollen, war ich mit dem Finger auf der auseinandergefalteten Karte an der Adria-Küste entlanggefahren. Wie aus Versehen hatte sie dabei ihren Zeigefinger auf meinen gelegt.

Sie hieß Barbara, war Mitte zwanzig und Lehrerin an einer Schule in Pennsylvania. Und zum ersten Mal in Europa. Nach ein paar gemeinsamen Tagen in Cavtat wollten wir weiter nach Griechenland. Zuerst lief es gut. Doch jetzt, in Ulcinj, saßen wir fest.
Nach fast drei Stunden in drückender Sommerhitze bremste ein VW-Bus. Vier junge Leute aus Köln, zwei Männer und zwei Frauen, die in die Türkei wollten. Der schnellste Weg von Südjugoslawien in die Türkei hätte quer durch Albanien geführt, doch Anfang der siebziger Jahre brauchte man ein dafür ein Visum. Die Schnellstraße, die Albanien weiträumig umfuhr, wäre ein gewaltiger Umweg gewesen. Auf der Suche nach einer anderen Route entdeckten wir eine hinter Podgorica abzweigende kleine Straße, auf der Karte nur ein dünner schwarzer Strich. Sie führte, quer durch die Albanischen Alpen, ganz nahe um den Nordzipfel des verbotenen Landes herum. Und war, laut Legende, ungeteert. Nach etwa achtzig Kilometern mündete sie auf die Autobahn von Peć nach Skopje. Daß sie nicht asphaltiert war, sollte, wie sich bald herausstellte, nicht ihr einziger Mangel sein. Denn je höher sich die Paßstraße in Serpentinen ins Gebirge hinaufschlängelte, desto unwegsamer wurde sie. Schon nach ein paar Kilometern glich sie eher einem Wirtschaftsweg, der offenbar nur selten von Autos, meist aber, wie die tiefen, eingetrockneten Spurrillen zeigten, von Traktoren und Eselskarren befahren wurde.

Der Weg war holprig und übersät von Geröll. Alle paar Meter wechselten tiefe Schlaglöcher mit breiten Mulden oder vom Regen ausgewaschenen Querrinnen. Immer wieder setzte der Bus auf und kratzte mit häßlichem Knirschen über Steine. Neben der Piste abgerissene Äste und Felsbrocken. Meist kamen wir nur im ersten Gang vorwärts und schafften kaum mehr als zehn Kilometer in der Stunde. Fast ununterbrochen ging es auf dem stets schmaler werdenden Feldweg bergauf, kein Fahrzeug kam uns entgegen, nicht einmal ein Eselskarren. Und weit und breit kein Mensch.

Als es dämmrig wurde, suchten wir eine kleine Bucht für den Bus und rollten auf einer Wiese unsere Schlafsäcke aus, die am nächsten Morgen feucht und schwer waren vom nächtlichen Tau.

Eine kreisende Flasche Slivovitz sorgte für gute Stimmung. Auf einem kleinen Feuer kochten wir Spaghetti und Tomatensauce. Wegen der Kälte behielten wir im Schlafsack die Jeans an und zogen einen dicken Pullover über. Die Milchstraße war ein leuchtendes Band am klaren Nachthimmel. Irgendwo in der Höhe der helle Schrei eines Raubvogels. Barbara schenkte ich den Stern im Zentrum der beiden Schenkel von Kassiopeia.

Am nächsten Morgen bat eine der beiden Frauen, die sich am Kauf des Busses beteiligt hatte und kurz vor der Führerscheinprüfung stand, ein paar Kilometer zu fahren. Die Gegend sei abgelegen, eine Polizeikontrolle unwahrscheinlich, und man komme sowieso nur im Schrittempo vorwärts. Und Gegenverkehr gebe es auch nicht. Die anderen waren einverstanden. Ihr Freund, der bisher meist gefahren war, nahm neben ihr Platz. Wir vier anderen saßen auf den Bänken im Fond einander gegenüber.

Es gab keine Probleme. Sie fuhr tatsächlich langsam und sehr vorsichtig. Es ging immer weiter bergauf. Die Vegetation wurde spärlicher. Die wenigen Buchen- und Tannenwälder hatten wir längst hinter uns gelassen, vereinzelte Krüppelkiefern säumten den Weg. Schließlich gab es nur noch dorniges Gestrüpp, das sich, vom Wind zerzaust, in Felsspalten festkrallte. Auf der linken Seite, direkt neben dem Bus, stiegen die Felswände schroff in die Höhe. Auf der anderen Seite der Abgrund. Vor uns, oberhalb der Geröllfelder, an den schattigen Flanken der Berge, lag Schnee. Aus einer darunterliegenden Felsspalte schoß in einem weißen Gischtbogen Schmelzwasser. Auf der ganzen Strecke gab es nicht die geringsten Schutzvorrichtungen. Selbst die gefährlichsten Stellen waren weder durch Planken noch Eisenketten oder Pfosten gesichert. Oft sah man, wenn der Bus um eine der engen Kurven fuhr, tief unten grüne Täler, durch die sich kleine Bachläufe schlängelten.

Plötzlich bog wenige Meter vor uns ein Wagen um eine Felsnase. Der Beifahrer rief: Hey, schaut mal, der ist aus Köln! Nicht zu fassen! Und das hier! Die Fahrerin nahm das Gas weiter zurück. Nur im Schrittempo ruckelten wir vorwärts. Auch das andere Auto, ein dunkelgrüner Ford, bremste ab und wich so weit wie möglich zur Felswand hin aus. Aber es reichte nicht, die Piste war zu eng, um aneinander vorbeizukommen. So lenkte unsere Fahrerin den Bus noch ein wenig weiter nach rechts. Ganz vorsichtig glitten die beiden Wagen nun aufeinander zu. Auch in dem anderen Auto saßen junge Leute, sie winkten ebenfalls. Allgemeines Gejohle im Bus. Aus Köln! Haste gesehen! Und das hier, am Ende der Welt! Heftiges Hupen aus beiden Autos. Sollten wir anhalten? Einen Slivovitz mit ihnen trinken? Vielleicht gab es gemeinsame Bekannte? Langsam und vorsichtig glitten die beiden Autos aneinander vorbei. Alle, auch die Frau am Steuer, schauten dem anderen Wagen nach, der jedoch keine Anstalten machte anzuhalten. Laut hupend rollte er weiter. Und verschwand nach ein paar Metern hinter der nächsten Kurve.

Unterdessen war das rechte Vorderrad des Busses um ein Winziges über den Rand der Böschung geraten. Ein kurzer Schreckensruf des Beifahrers, der in das Lenkrad griff, es hart nach links drehte und die Handbremse hochriß. Nun machte das Heck einen winzigen Hüpfer nach rechts, so daß auch das Hinterrad über den bröckelnden, unbefestigten Rand geriet. Die Fahrerin saß starr. Ein Moment erschrockener Stille.

Wie in Zeitlupe neigte sich nun der Bus um ein Geringes zur Seite. Einen Augenblick lang schien es – oder war es bloß die verzweifelte Hoffnung? –, als würde der Wagen so verharren, beide Räder über dem Abgrund. Doch dann begann alles zuerst nach rechts zu gleiten, dann zu fallen: Taschen, Rucksäcke, Kleider, Bücher, Flaschen, Schlafsäcke, der Gaskocher, Konservendosen, der Werkzeugkasten. Und obwohl wir uns irgendwo festzukrallen suchten, rutschten auch wir, Gurte gab es noch keine, auf die rechte Seite.

Langsam, ganz langsam neigte sich der Bus weiter, kippte dann mit einem harten Aufschlag auf die rechte Seite und schrammte langsam in die Tiefe. Ich hatte auf der hinteren Bank neben der Schiebetür gesessen, jetzt lag ich begraben unter einem wüsten Durcheinander. Ich bekam kaum Luft, mein Arm schlug nach vorne, die Hand geriet an den Griff der Sitzbank, an der ich mich festklammerte.

Wir schlitterten abwärts, mein Kopf gegen die Seitenwand des Busses gepreßt. Direkt neben dem Ohr das Geräusch von über Stein kratzendem Metall. Die Schlucht, die wir hinabzurutschen begannen, war mehrere hundert Meter tief. Plötzlich ein heftiger Schlag, offenbar war der Bus gegen einen Felsvorsprung geprallt und kippte nun nach vorne über das Dach. Alles und alle stürzten über- und durcheinander, immer noch schrie niemand, nur lautes Krachen, helles Schaben, splitterndes Glas. Plötzlich ein Gesicht mit weit aufgerissenen Augen vor mir, das gleich wieder verschwand. Wo war oben, wo unten?

Dann erneut ein Stoß, doch um ein geringes sanfter als der vorige. Und ein Krachen. Und ein seltsames Rauschen. So, als ob der Bus von einer riesigen Faust hin und her geschüttelt würde. Dann eine seltsame, fast bedrohliche Stille, unwirklich und unbegreiflich. Immer noch kein Gefühl für oben und unten, für links und rechts. Und für das, was gerade geschehen war.

Doch plötzlich nicht mehr eingeklemmt. Ich versuche Arme und Beine zu bewegen, den Kopf zu drehen. Noch immer kein Laut im Bus. Bloß der Sturz war auf unerklärliche Weise aufgehalten. Und nach ein paar Augenblicken der Überraschung und Orientierung schien, trotz des Chaos um uns herum, alles wieder normal. Der Wagenhimmel war oben, da, wo er immer gewesen war und wo er zu sein hatte. Oder war es doch eine Täuschung? Nein, der Bus hatte offenbar wieder seine normale, seine richtige, seine gewöhnliche Position eingenommen. Aber was war los? Noch immer sprach niemand.

Vor dem intakt gebliebenen Seitenfenster der Schiebetür eine dichte Wand aus Grün. Blätter und Geäst auch vor der Windschutzscheibe. Wir stecken, begreife ich langsam, mitten in einem Baum. Der Bus hängt offenbar in seiner Krone, mit den Rädern nach unten. Sanft schaukelnd bewegt er sich hin und her. Ich zerre an der Schiebetür, sie klemmt. Doch mit einem kräftigen Ruck kann ich sie zurückziehen. Zweige schlagen mir ins Gesicht. Ich taste nach einem etwas dickeren Ast, halte mich dort fest, suche einen anderen Ast für den Fuß – und ziehe mich aus dem Bus.

Ich zerre an der Schiebetür, sie klemmt. Doch mit einem kräftigen Ruck kann ich sie zurückziehen. Zweige schlagen mir ins Gesicht. Ich taste nach einem etwas dickeren Ast, halte mich dort fest, suche einen anderen Ast für den Fuß – und ziehe mich aus dem Bus.

Unheimliche Stille, auch keine Motorengeräusche mehr. Ich rufe, und es ist der erste Laut seit dem Sturz: Dreh den Zündschlüssel um! Denn ich fürchte, Benzin könne über den heißen Motor laufen. Und das Ausschalten der Zündung würde dies verhindern. Nacheinander beginnen nun auch die anderen, sich aus dem Chaos zu befreien und herauszuklettern. Durch die Schiebetür zuerst Barbara und dann die beiden, die hinten saßen. Aus der Beifahrertür zwängen sich die anderen heraus. Wir bewegen uns äußerst vorsichtig, denn so oft sich jemand aus dem Bus herauswindet, schaukelt er hin und her.

Schließlich sitzen wir zu sechst in der Spitze des Baums, die vier zuletzt Ausgestiegenen in gleicher Höhe wie der Bus, Barbara und ich einige Äste darunter. Um uns abgerissene oder vom Bus eingeklemmte Zweige. Tief unten das grüne Band eines kleinen Flusses.

Einer beginnt hinunterzuklettern, die anderen folgen. Auf den untersten Ästen verharren wir, gut zwei Meter über dem Hang. Eine der Frauen beginnt zu weinen. Eine andere, Panik in der Stimme, es sind die ersten Worte seit dem Unfall, stöhnt, sie schaffe es keinesfalls, da hinunterzuspringen, ihre Beine zitterten entsetzlich. Barbara ist bleich im Gesicht, ihre linke Hand blutet.

Wir müssen sofort unter dem Bus weg, rufe ich. Er kann auf uns fallen. Oder in Brand geraten. Und springe. Unten suche ich festen Stand, drücke den Rücken gegen den Stamm und helfe den anderen herunter. Zuletzt schafft es mit Hilfe von allen auch die Frau mit den noch immer zitternden Beinen.

Auf allen vieren kriechen wir den Hang hinauf, krallen uns an Wurzeln und Steinen fest. Oben, auf dem Weg, sehen wir uns fassungslos an, umarmen uns. Dem Beifahrer tropft etwas Blut ins Gesicht von einem kleinen Riß über der Augenbraue. Fast alle haben Schürfwunden oder Quetschungen durch das herumstürzende Gepäck.

Und dann erfassen wir das ganze Ausmaß unseres Desasters – und unseres Glücks. Denn links und rechts auf dem Abhang ist kein weiterer Baum zu sehen, nur einer. Unser Baum. Ein etwa fünfzehn Meter hoher Ahorn mit einem dicken Stamm. Ein Solitär, fest im Gestein verwurzelt. Und in seinem Wipfel, etwa zwanzig Meter unterhalb des Wegs, die linke Fahrzeugseite vom Baum abgewandt, der vordere Wagenteil von Blättern und Zweigen bedeckt, die beiden Hinterräder in der Luft, unser Bus.

Verloren im Gebirge. Ohne Gepäck. Ohne Essen. Ohne Schlafsack.

Ich mache den Vorschlag, zunächst den Motor kalt werden zu lassen, um dann zu versuchen, das Notwendigste herauszuholen. Nach etwa einer Viertelstunde klettern wir zu zweit zu dem Bus hinauf, wagen aber nicht hineinzusteigen, weil er bei jeder Gewichtsveränderung zu schwanken beginnt. Vorsichtig greifen wir nach allem, was wir von der Seitentür aus erreichen können.

Abends gibt es Ravioli aus der Dose. Die Stimmung ist angespannt, schwankt zwischen Verzweiflung und Euphorie. Um uns zu wärmen, zünden wir ein Feuer an, schauen lange schweigend in die Flammen. Immer wieder klagt sich die Fahrerin wegen ihrer Unachtsamkeit an. Ihr Verhalten sei unfaßbar leichtsinnig gewesen. Und ganz und gar unentschuldbar. Immer wieder beginnt sie zu weinen. Dann nehmen wir sie in den Arm und trösten sie. Das Wichtigste sei doch, versichern wir ihr und uns, daß wir überlebt hätten. Und daß niemand ernsthaft verletzt sei.

Aber was hätte nicht alles passieren können! wirft sie ein. Wenn unser Baum nicht gerade hier, ausgerechnet hier, gestanden hätte! Dutzende Male hätte sich der Bus überschlagen, bis er unten im Tal aufgeschlagen wäre. Niemand hätte das überleben können.

Auch der Beifahrer macht sich Vorwürfe, weil er seine Freundin ans Steuer gelassen hat. Irgendwann aber überwiegt die Erleichterung, den Unfall auf so unwahrscheinliche Weise überlebt zu haben.

Wir überlegen, einen Abschleppdienst zu benachrichtigen. Doch auf den ersten Kilometern des Passes hatten wir nur einige vereinzelte Häuser gesehen. Kaum anzunehmen, daß wir weiter oben eine Tankstelle oder eine Werkstatt finden würden. Es bleibt nichts als zu warten, daß irgendwann jemand vorbeikommt. Und zum zweiten Mal im Gebirge zu übernachten, einige Meter oberhalb des Wegs. Es ist erheblich kälter als in der Nacht zuvor. Ein eisiger Wind streicht von den Bergen herunter. Barbara und ich verbinden unsere Schlafsäcke mit den Reißverschlüssen, versuchen uns aneinander zu wärmen. Morgens ist alles klamm. Einer von uns steht immer unten auf dem Weg und hält Ausschau, ob jemand vorbeikommt. Und wirklich: Irgendwann am späten Vormittag ein zuerst entferntes, dann immer lauter werdendes Knattern, das sich von oben nähert. Ein älterer Mann auf seinem Moped. Wir laufen auf den Weg hinunter, winken ihm zu. Er hält an und wir zeigen auf den Bus im Baum. Und versuchen ihm zu erklären, daß wir einen Abschleppwagen brauchen. Er nickt, schaut, bevor er weiterfährt, noch einmal zu dem Bus hinunter, muß plötzlich lachen, schüttelt den Kopf und fährt weiter.

Wir warten. Horchen. Und halten Ausschau nach dem Abschleppwagen. Doch der Tag vergeht. Nichts geschieht. Auch sonst kommt niemand mehr vorbei. Abends bezweifeln wir, daß der Mopedfahrer jemanden informiert hat. Die dritte Nacht im Freien. In der Ferne heult ein Tier, es hört sich an wie ein Wolf. Gegen Mittag des nächsten Tages das entfernte Geräusch eines Motors. Dann biegt ein Jeep um die Ecke. Ein Jeep, mit einer Seilwinde am Heck. Der junge Mann, seiner Kleidung nach zu urteilen ein Bauer aus der Gegend, lacht, als er den Bus im Baum erblickt. Und wird immer freundlicher, als er die drei Frauen bemerkt. Mit elegantem Schwung setzt er den Wagen zurück, stoppt mit dem Heck dicht neben dem Abgrund. Klappt zwei metallene Stützen neben den Hinterrädern aus und zieht, den Frauen weiter zulächelnd, das Stahlkabel aus der Trommel. Behende steigt er hinab, wir helfen ihm auf den Baum, und er befestigt den Haken an der Unterseite des Busses. Dann startet er den Motor der Winde. Das Seil strafft sich, doch der Bus bewegt sich keinen Millimeter. Ich fürchte, das Kabel könne reißen und warne die anderen.

Alle schauen auf den Bus, doch plötzlich bewegt sich – der Jeep. Über seine beiden Stützen hüpft er mit einem kleinen Bocksprung nach hinten. Und hängt nun selbst mit den Hinterrädern und Stützen über dem Abgrund. Der Junge wird schlagartig bleich.

Wir helfen ihm, den Haken vom Bus zu lösen. Dann parkt er den Jeep ein Stück vom Abgrund entfernt. Wir legen jetzt das Seil um den Stamm einer krüppeligen kleinen Kiefer oberhalb des Wegs und befestigen es erneut am Bus. Er startet die Winde, diesmal vorsichtig und konzentriert. Und nun bewegt sich der Bus. Rückwärts rutscht er aus dem Baum, kippt um, als er auf dem Boden aufschlägt. Und fällt erneut mit der rechten Wagenseite auf den Hang. In dieser Position hievt ihn die Winde nach oben. Wieder schabt und knirscht Metall über Gestein. Doch es gelingt, ihn bis auf den Weg hinaufzuziehen, wo er auf der rechten Wagenseite liegenbleibt.

Alle packen nun an, auch der Jeepfahrer, und gemeinsam schaffen wir es, den Bus auf die Räder zurück zu kippen. Er schaukelt einige Male hin und her, jedes Mal ächzen dumpf seine Stoßdämpfer. Doch dann steht er wieder auf seinen vier Rädern.

Die Schäden sind erstaunlicherweise recht gering. Einer der beiden Außenspiegel ist abgerissen, ein Scheinwerferglas zerbrochen, über die Windschutzscheibe zieht sich ein etwa zwanzig Zentimeter langer Riß. Die Beifahrertür klemmt und quietscht beim Öffnen. Zahlreiche Beulen auf der rechten Seite und auf dem Dach, und die gesamte Karosserie ist voller Schleif- und Kratzspuren. Zwischen beiden Achsen und unter dem Auspuff klemmen Zweige.

Beim dritten Anlaßversuch springt der Motor an. Die nicht sehr große Summe, die der junge Mann haben will, teilen wir. Dann räumen wir den Bus auf, verstauen unser Gepäck – und setzen die Fahrt fort. Der Unfall geschah, wie wir nun bemerkten, fast an der höchsten Stelle des Passes. Nach ein paar Kilometern erreichten wir eine geteerte Straße zur Autobahn Richtung Skopje.

Ein paar Stunden später, in einer Parkbucht vor Thessaloniki, verließen Barbara und ich die vier. In einer VW-Werkstatt in Istanbul wollten sie die Schäden reparieren lassen.

Während der Havarie im Gebirge hatte uns zwei- oder dreimal zunächst aus sicherer Entfernung ein etwa zwölfjähriger Junge beobachtet, unklar, wo er herkam. Auf dem Kopf trug er die landestypische weiße Filzkappe, seine Füße steckten in Gummistiefeln, die beiden viel zu großen Pullover, die er übereinander angezogen hatte, waren löchrig. Verständigen konnten wir uns nicht mit ihm. Er sah immer wieder auf das Schweizer Armeemesser, das in einer Hülle an meinem Gürtel steckte und mich auf allen Fahrten begleitet hatte. Ich zeigte es ihm. Vorsichtig klappte er jedes Teil heraus und betrachtete alles genau. Dann verschwand er wieder.

Als alles Gepäck eingeladen war und wir uns anschickten loszufahren, hockte er abseits auf einem Felsbrocken. Ich zögerte etwas, dann ging ich zu ihm hin, öffnete den Gürtel, streifte das Messer samt Hülle heraus, gab es ihm und sagte, obwohl ich wußte, daß er es nicht verstand: »Paß gut drauf auf!« Er strahlte, steckte das Messer ein, winkte uns zu und verschwand.

Im Herbst kehrten Barbara und ich aus Griechenland nach Deutschland zurück. Sie bewarb sich bei den amerikanischen Streitkräften im pfälzischen Ramstein um eine Stelle als Lehrerin, wurde jedoch abgelehnt. Ende November 1972 brachte ich sie nach Frankfurt, von wo sie in die USA zurückflog. Es war ein paar Tage nach dem Sieg Willy Brandts bei der Bundestagswahl, deren Ausgang wir noch abgewartet hatten.

Am 3. Januar 1973 begann in einem Altersheim mein Ersatzdienst. Noch immer, schrieb ich ihr, schaffte ich es nicht, zu jemandem ins Auto zu steigen. »Even I still can not get into a car to strange people«, las ich in einem ihrer Briefe, die, noch ein paar Monate lang, morgens im Postfach der Zivildienstleistenden steckten.

Anmerkung des Verlags: Der Text ist erschienen in „Sinn und Form“, Heft 4/2020.

Dr. Ralph Schock  Portrait

Dr. Ralph Schock war von 1987 bis 2017 Literaturredakteur beim Saarländischen Rundfunk. Neben zahlreichen Gesprächssendungen mit Autoren bzw. zu literarischen Themen publizierte er eigene literarische, journalistische und wissenschaftliche Arbeiten, u.a. in Jahrb. für internat. Germanistik, Frankfurter Hefte, Die Feder, Kunst & Kultur, VS - Vertraulich, Frankfurter Rundschau, OPUS, saargeschichte(n), Sinn und Form, europe, Text-Kritische Beiträge, Streckenläufer, Schreibheft, Neue Zürcher Zeitung, Die Horen, Park, etc.

Seit 1995 ist er Herausgeber der Buchreihe „Spuren“ mit Texten von Theodor Balk, François-Régis Bastide, Alfred Döblin, Ilya Ehrenburg, Harald Gerlach, Hermann Hesse, Giwi Margwelaschwili, Werner Reinert, Joseph Roth, Philippe Soupault, Korrespondenz Eugen Helmlé, Georges Perec sowie das Lese- und Bilderbuch „Also heraus und weit weg! - Expressionismus – Eine Epoche und die Saarregion“ (2020).

Weitere Publikationen von Dr. Ralph Schock:

  • „Kaffeeschmuggler und Steckdosenmäuse – Eine Kindheit in den 50ern“ (Berlin 2017)
  • „Nach Kolchis – Faszination Georgien – Reiseimpressionen“ (Verbrecher-Verlag, Berlin 2021)
  • Joseph Roth: „Die Rebellion“. Nach dem Manuskript ediert (Wallstein-Verlag, Göttingen 2019²).
  • Ferner ist er Herausgeber der Buchreihe „Abiturreden“ (von 1999 bis 2017) mit Reden von Wilhelm Genazino, Birgit Vanderbeke, Herta Müller, Guntram Vesper, Dieter Wellershoff, Raoul Schrott, Ulrike Kolb, Feridun Zaimoglu, Ulrich Peltzer, Christoph Hein, Juli Zeh, Thomas Hürlimann, Sibylle Lewitscharoff, Martin Mosebach. Jenny Erpenbeck, Marcel Beyer, Jan Wagner und Anne Weber sowie Mitherausgeber der Gustav-Regler-Werkausgabe.

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