Anders reisen mit Heinrich Heine

Christoph Paul Hartmann // Februar 2023

Deutsche Vergangenheit, namibische Gegenwart: Blick auf Lüderitz. (© Foto: Christoph Paul Hartmann)

Warum reisen wir eigentlich? Auf diese Frage gibt es zahlreiche, sehr unterschiedliche Antworten. Eine Umfrage unter 30.000 Europäer:innen im Jahr 2012 kam zu folgendem Ergebnis: Erholung (48 Prozent), Sonne/Strand (28), Verwandte oder Freunde besuchen (28), Natur (18), Städtereisen (16), Kultur (14). Eine enorme Vielfalt, doch eins sticht heraus: Wir suchen etwas in einer anderen Region, das wir zu Hause nicht finden. Es scheint also ein Bild zu geben, das wir schon vor Reiseantritt im Kopf haben – und das vor Ort bitteschön bestätigt werden sollte. Das kann auf Kosten der Realität gehen: Wer gern in Pattaya am Strand liegt, mag nicht unbedingt über das autoritäre Militärregime in Thailand nachdenken, wer durch die Straßen Portos schlendert, hat nur selten einen Blick für die wirtschaftlichen Probleme in Portugal. Kann aber Reisen auch anders gehen? Für einen neuen Blick kann es helfen, mit Heinrich Heine im Gepäck zu reisen.

Bekannt wurde der gebürtige Düsseldorfer mit seinen Reisebildern, die, das deutet schon ihr Titel an, keine Reiseberichte sein sollen, sondern ein bei einer Reise entstandenes Bild vermitteln – und das auf literarische, oft satirische Art. Werfen wir einen Blick auf den Beginn des Textes, den Heine über die Nordseeinsel Norderney geschrieben hat.

„Die Eingeborenen sind meistens blutarm und leben vom Fischfang, der erst im nächsten Monat, im Oktober, bei stürmischem Wetter, seinen Anfang nimmt. Viele dieser Insulaner dienen auch als Matrosen auf fremden Kauffahrteischiffen und bleiben jahrelang vom Hause entfernt, ohne ihren Angehörigen irgendeine Nachricht von sich zukommen zu lassen. Nicht selten finden sie den Tod auf dem Wasser.“ Wogende Wellen, sich in der Brise wiegende Gräser, pittoreske Bauernhäuser? Alles Fehlanzeige. Heine beginnt in diesen ersten Sätzen seines Reisebilds mit der Schilderung des harten, entbehrungsreichen Lebens der armen Bevölkerung in dieser – heute würde man sagen „strukturschwachen“ – Region. „Was diese Menschen so fest und genügsam zusammenhält, ist nicht so sehr das innig mystische Gefühl der Liebe, als vielmehr die Gewohnheit, das naturgemäße Ineinander-Hinüberleben, die gemeinschaftliche Unmittelbarkeit“, schreibt er weiter. Die Menschen würden dadurch zusammengehalten, dass alle in etwa den gleichen Lebensstandard, die gleiche Bildung, den gleichen Erfahrungsschatz haben. Diese Erkenntnis nutzt er für Grundsätzlicheres. Denn diese gesicherte, selbstverständliche und stabile Form des Lebens habe es früher überall gegeben, als die katholische Kirche noch alle Lebensbereiche kontrolliert habe. „Aber der Geist hat seine ewigen Rechte, er lässt sich nicht eindämmen durch Satzungen und nicht einlullen durch Glockengeläute; er zerbrach seinen Kerker und zerriss das eiserne Gängelband.“ Ebendieser Prozess spiele sich nun auch hier bei den Insulanern ab, denn „ihre alte Sinneseinheit und Einfalt wird gestört durch das Gedeihen des hiesigen Seebades, indem sie dessen Gästen täglich etwas Neues ablauschen, was sie nicht mit ihrer altherkömmlichen Lebensweise zu vereinen wissen“.

Was ist hier passiert? Heine sieht sich die Menschen an, wie sie leben, in welchen Zusammenhängen sie existieren, zieht daraus Schlüsse für das Leben allgemein und sieht die großen Entwicklungen der Geschichte seiner Zeit – die Nachwirkungen der Aufklärung und der Französischen Revolution – hier wie in einem Brennglas wirken. Mit der Erkenntnis: Ein Lebensentwurf geht hier zu Ende.

Heine steht mit seinem Ansatz der Reisebilder in einer Tradition, in der viele Bilder, die wir auch heute noch vom Reisen haben, eine Rolle spielen. Auf seiner Italienischen Reise, die Johann Wolfgang von Goethe 1786 bis 1788 machte und von 1813 bis 1817 niederschrieb, war er auf der Suche nach der Antike. Ganz im aufklärerischen Geist sah er in alten Ruinen die Grandezza und Erhabenheit des römischen Reichen widerscheinen, alles war ihm ein Fenster in vergangene Zeiten und deren Größe. Die politische und gesellschaftliche Gegenwart – dagegen frotzelt auch Heine – spielt für ihn kaum eine Rolle.

Der bekannte Spaziergänger Johann Gottfried Seume sieht das einige Jahre später schon deutlich anders. Er sei „bloß um an dem südlichen Ufer Siziliens etwas herumzuschlendern und etwa junge Mandeln und ganz frische Apfelsinen dort zu essen“ nach Italien gekommen, schreibt er. Von einer humanistischen Bildungsreise, wie sie noch Goethe als Teil seines Intellektuellendaseins gemacht hat, hält er nichts. Er hat einen Blick für die Lebensrealität der Menschen, sieht die Herrschafts- und Gesellschaftsverhältnisse vor Ort und schildert konkret die Zustände seiner Reisestationen. Sein Bild wandelt sich zu dem einer politischen Reise.

Straßenszene in Dublin. (© Foto: Christoph Paul Hartmann)

Heine geht davon aus, aber noch einen Schritt weiter. Er bemüht sich weniger um eine kleinteilige Analyse konkreter politische Zustände, er hebt auf das Generelle ab. Politische Ideale, Veränderungen des Menschenlebens an sich stehen bei ihm im Fokus. Er zeigt durch seine Reisebilder, wie eine Umgebung, ob architektonisch, politisch oder gesellschaftlich, die Menschen darin formt. „Noch immer starrt in meinem Gedächtnisse dieser steinerne Wald von Häusern und dazwischen der drängende Strom lebendiger Menschengesichter mit all ihren bunten Leidenschaften, mit all ihrer grauenhaften Hast der Liebe, des Hungers und des Hasses – ich spreche von London“, schreibt er etwa an anderer Stelle und bemerkt: „Diese kolossale Einförmigkeit, diese maschinenhafte Bewegung, diese Verdrießlichkeit der Freude selbst, dieses übertriebene London erdrückt die Phantasie und zerreißt das Herz.“ So umschreibt er mit wenigen Sätzen die Auswirkungen der beginnenden Industrialisierung in Großbritannien. Ebenso zeigt er, wie die Bewohner Tirols ihre Kultur auf den Bühnen der großen Städte hemmungslos zu Geld machen: „Ich habe nicht mitklatschen können“, gibt er bedrückt zu. Mit der gleichen Aufmerksamkeit beschreibt er in der „Harzreise“ das Leben der Bergleute: „Ich besuchte mehrere dieser wackern Leute, betrachtete ihre kleine häusliche Einrichtung, hörte einige ihrer Lieder, die sie mit der Zither, ihrem Lieblingsinstrumente, gar hübsch begleiten, ließ mir alte Bergmärchen von ihnen erzählen, und auch die Gebete hersagen, die sie in Gemeinschaft zu halten pflegen, ehe sie in den dunkeln Schacht hinuntersteigen, und manches gute Gebet habe ich mitgebetet.“ Ein subtiler Hinweis darauf, dass die Arbeit zu dieser Zeit noch lebensgefährlich war, was seinen Niederschlag im Alltag fand.

Was können wir daraus heute mitnehmen? Bei Heine stehen die im Fokus, die beim Reisen viel zu oft zur Staffage werden: Die Menschen der Gegenwart, die immer vor Ort sind. Für Touristen werden landauf, landab geradezu eigene Erlebnislandschaften gebaut (wie es Heine schon bei den Tirolern anreißt), um die gewünschten Eindrücke der Reise auch ja zu generieren – sei es für das Fotoalbum oder den Instagram- Kanal. Heine hat sich, egal ob in nah oder fern, für die Menschen interessiert und versucht, dadurch neue Einsichten für sich selbst und die heimischen Zustände zu finden. So analysierte der das Leben in Deutschland in einem seiner bekanntesten Werke „Deutschland. Ein Wintermärchen“ mit den Zeilen:

Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer ein rechter Winkel
In jeder Bewegung, und im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.

Während er seiner Heimatstadt Düsseldorf in der Zeit seiner Kindheit attestierte, es sei ein Ort, in dem „nicht bloß die Franzosen, sondern auch der französische Geist herrschte“. Der Blick auf die Menschen kann ein Blick auf das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit, Weltpolitik, eigener Identität und den vielen damit verbundenen Ambivalenzen sein. Das ist die Art Souvenir, die man mit dem Heine-Blick mit nach Hause nehmen kann.

Um diese Form des Reisens habe ich mich auch in meinem Buch „Hemmel on Ähd - Unterhaltsame Spaziergänge durch Düsseldorfs Kultur und Geschichte“ bemüht. Einer der Spaziergänge dort führt deshalb auch durch ein Arbeiterviertel.


Christoph Paul Hartmann Portrait

Christoph Paul Hartmann, stammt aus Neuss. Er studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig und ließ sich anschließend am Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses zum Journalisten ausbilden. Er arbeitete als Journalist und Moderator unter anderem für den WDR, das Deutschlandradio, das Domradio und katholisch.de. Seine Interessen liegen vor allem in den Bereichen Religion, Kultur und Gesellschaft. Er ist Autor des Buches ‚Hemmel un Ähd – Unterhaltsame Spaziergänge durch Düsseldorfs Kultur und Geschichte‘. Er ist Autor zahlreicher Bücher, Artikel und Beiträge zu Sammelbänden.

Journal

Hitzluapitzli

Dr. Rainer Sandweg

Der Steiger kommt!

Peter Winterhoff-Spurk

Neuer Reineke Fuchs Kapitel 1-4

Eingelesen von Matthias Girbig

Social Media Kanäle abonnieren