1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland

Prof. Roland Rixecker // Juni 2021

1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland © Logo: 2021jlid.de

Ansprache vom Präsidenten des Saarländischen Verfassungsgerichts, Prof. Roland Rixecker in der Ludwigskirche Saarbrücken, 06. Juni 2021.

„Erinnerung“, so schreibt der libanesische Dichter Khalil Gibran, „Erinnerung ist eine Form der Begegnung.“ Im Jahr 2021 erinnern wir uns an 1700 Jahre jüdischer Geschichte in Deutschland, an ein Dokument des römischen Kaisers Konstantin, der im Jahr 321 Juden das Recht zugestand, Ratsherren im deutschen Teil seines Reiches zu werden. Das war zwar auch ein erstes Recht, das Juden gewährt wurde, in Wirklichkeit aber eine Pflicht: Ratsmitglieder mussten die finanziellen Lasten des Kaiserreichs und seiner Gemeinden tragen. Es war also der Beginn einer funktionalen Beziehung von Deutschen zu Juden: Wohlhabende Juden, wurden gelitten, zeitweise, arme litten nur auf der historischen Reise in das Jahr 2021 mit ihren wenigen hellen und zahlreichen tiefschwarzen Tagen und Nächten in Deutschland. Das heißt: 1700 Jahre jüdisches Leben ist also eine deutsche Geschichte, eine Geschichte, in deren Verlauf wir Deutschen uns selbst begegnen.

Wenn wir heute über jüdisches Leben sprechen, sprechen wir über die Shoa. Manche auf jüdischer Seite bezeichnen das als Gedächtnistheater, als eine Inszenierung, die eine neue deutsche Identität durch das Bekenntnis der Läuterung stiften soll. Juden schreibt der jüdische Autor Max Czollek, würden dazu an sich nicht unbedingt benötigt: Synagogen könne man auch ohne jüdische Beteiligung aufbauen, jüdische Museen von deutschen Leitern ausstatten lassen. Wichtig seien Juden eigentlich nur dort, wo sie – und das wäre wieder eine funktionale Beziehung – wo sie Deutschen, Czollek schreibt „den Nachfahren der Täter“, dazu dienten, sich mit der eigenen Gewaltgeschichte zu versöhnen. Mit der Vielfalt, der Diversität jüdischen Lebens, mit jüdischen Positionen habe dies alles nur teilweise zu tun.

Trifft das wirklich zu? Versagen wir jüdischen Menschen vielleicht Respekt, wenn wir sie nur als Opfer betrachten? Oder macht es gerade in diesem Jahr Sinn, zusammen mit der Erinnerung an die Shoa einmal zu schauen, den Juden in Deutschland eine eigene, stolze Stimme – besser gesagt viele viele unterschiedliche stolze Stimmen – zu geben oder besser zu lassen?

Natürlich müssen wir – immer wieder – über das Menschheitsverbrechen der industrialisierten Vernichtung von Millionen jüdischer Menschen sprechen. Dabei müssen wir aber nicht zuletzt wissen, „warum“ wir immer wieder darüber sprechen müssen: Nicht um uns Lebende zu geißeln, sondern damit wir dem nicht nur widerstehen, sondern es bekämpfen können, was in 1700 Jahren immer wieder leise angeschlichen kam und dann ausgebrochen ist, die hasserfüllte Ausgrenzung einer Gruppe von Menschen, die abartigen Verschwörungsfantasien – vom Hostienfrevel über die Ritualmorderfindung bis heute zur Pandemie als dem Teil einer jüdischen Machtergreifung.

Auch das sind katastrophale Seuchen, die die Vernunft unheilbar infizieren können, die den Landfrieden, die Freiheit und die Würde aller bedrohen. Sie sind – wie alle Seuchen – nicht plötzlich einfach da, sie entstehen heimlich, brechen hier und da erst in begrenztem Umfang aus, um dann mit Wucht alles, was den Menschen ausmacht, zu befallen und zu zerstören. Der 31.01.1933 hatte eine lange Vorgeschichte, der 09.11.1938 hatte eine lange Vorgeschichte. Wir erinnern uns um unserer Gegenwart und Zukunft willen.

Bildmontage: Heinrich Heine-Oppenheim, 1831. (© Foto: gemeinfrei, wikipedia.org) Ölporträt Felix Mendelssohn Bartholdys, gemalt 1846 von Eduard Magnus. (© Foto: gemeinfrei, wikipedia.org) Colorized painting von Sigmund Freud (© Foto: gemeinfrei, wikipedia.org)

Und um unserer Gegenwart und Zukunft willen müssen wir aber gerade auch über den kulturellen, den zivilisatorischen Reichtum zu sprechen, den wir jüdischen Menschen in Deutschland verdanken: Albert Einstein und Paul Ehrlich, Gustav Mahler und Felix Mendelssohn-Bartholdy, Franz Kafka und Heinrich Heine, Lise Meitner, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs, Rahel Varnhagen, vielleicht, auf der konservativen politischen Seite auch Walther Rathenau und auf der nicht so konservativen Rosa Luxemburg. Und weil wir im Saarland sind: uns bewusst machen, dass es einen jüdischen Generalmusikdirektor Felix Lederer, einen jüdischen Generalintendanten Dr. Georg Pauly gab, dass es neben bedeutenden Ärzten, Kaufleuten und Bankiers Menschen gab, die die rechtsstaatlichen Grundlagen unserer saarländischen Verfassung gelegt haben, die Juristen Alfred Levy und Gustav Levy. Und dass es ganz viele Menschen jüdischen Glaubens gab und gibt, die uns nichtjüdischen Deutschen ihr Vertrauen gegeben haben und geben und mit ihren Kindern, Enkeln und Großenkeln als unsere Nachbarn aus der Vertreibung zurückgekehrt oder neu zu uns gekommen sind und uns in diesem Jahr zu ihrer Musik, ihrer Poesie, ihren Festen einladen wollen, zu Sukkot im September etwa, in eine Laubhütte, die kein Dach hat, damit die Menschen den Himmel sehen können und das, was sie mit ihm in ihrem Innern verbinden.

Der evangelischen Pfarrerin Stefanie Schardien verdanke ich einen wunderbaren Hinweis. Was heißt erinnern, was bedeutet es, wenn wir in unserer Gegenwart immer wieder Erinnerungen für die Zukunft schaffen: Im Deutschen weist das Wort erinnern daraufhin, dass Erlebtes verinnerlicht, zu dem wird, was unser Innerstes ausmacht. Es bedeutet also, dass Vergangenheit (und der Umgang mit ihr) Teil von uns wird. Im Englischen heißt erinnern to remember, Erinnerung remembrance: Wenn wir uns erinnern, nehmen wir danach etwas, was war, wieder zu uns auf, wir machen es wieder zum Mitglied unserer Gemeinschaft, zum Teil unseres Lebens und Handelns und wollen es behalten.

Deshalb ist 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland kein Gedächtnistheater von nichtjüdischen Deutschen für nichtjüdische Deutsche mit der Funktion, das wohlige Gefühl zu wecken, zu den Guten zu gehören. Es ist sowohl eine Schrift an der Wand, die mahnt, dass wir wachsam sein müssen, als auch ein Zeichen der Zuversicht: Jüdisches Leben in Deutschland ist kein romantisch-museales historisches Ausstellungsstück zwischen Klezmermusik, Meschugge-Partys und gefillte Fisch. Jüdisches Leben ist ein sehr anspruchsvoller und differenzierter, integraler und eminent wichtiger Teil unserer deutschen Gegenwart und Zukunft. Und das ist notwendig und das ist gut so.

Anmerkung des Verlags: Unter dem Namen #2021JLID– Jüdisches Leben in Deutschland werden bundesweit rund tausend Veranstaltungen ausgerichtet. Darunter Konzerte, Ausstellungen, Musik, ein Podcast, Video-Projekte, Theater, Filme. Weitere Informationen unter https://2021jlid.de

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